Sirenen in der Nordsee: Roxane Bickers „Wellenbrecher“

Wellenbrecher

In Roxane Bickers „Wellenbrecher“ wird auf der fiktiven Nordseeinsel Medderoog durch Zufall ein älteres menschliches Skelett gefunden. Da ihr Vorgesetzter den Fall zu verschleiern versucht, nimmt die zugezogene Polizistin Philippa Berger inoffizielle Ermittlungen auf. Schnell stellt sich dabei heraus, dass ihre Untersuchungen auf der Insel alles andere als erwünscht sind. Als sich Philippa davon nicht beeindrucken lässt, geschehen schließlich Morde, um ein düsteres Geheimnis zu wahren, dessen Ursprung bereits viele Jahre zurückliegt.

Was zunächst nach einem klassischen Krimi klingt, bekommt im Laufe der Erzählung eine phantastische Nuance, als sich herausstellt, dass sich das Geheimnis um Meerjungfrauen bzw. Sirenen dreht, denen großes Unrecht zugefügt wurde.

Parthenopes Töchter

In „Wellenbrecher“ geht Roxane Bicker nicht näher auf den Ursprung der übernatürlichen Wesen ihrer Erzählung ein. So erfahren wir nur, dass sie von den Menschen als Meerjungfrauen bezeichnet werden, während sie selbst sich Sirenen nennen. Die durch den Begriff hergestellte Verbindung zur Antike wird aber nicht weiter ausgeführt.

Erfreulicherweise gibt es aber eine in limitierter Auflage erschienene Kurzgeschichte mit dem Titel „Parthenopes Töchter“, in der die Sirene Harpo, die wir bereits aus „Wellenbrecher“ kennen, der Polizistin Philippa Berger Näheres über den Ursprung der Sirenen erzählt.

Drei Sirenenschwestern

So erfahren wir von den drei Sirenenschwestern Parthenope, Ligeia und Leukosia, die Töchter des Flussgottes Acheloos waren und die von der Göttin Demeter damit beauftragt wurden, als dienende Gefährtinnen auf deren Tochter Kore (Persephone) aufzupassen. Als Kore den Schwestern eines Tages nach einem kleinen Streit entwischt, verwandelt Demeter sie in drei Greifvögel, sodass sie nach einiger Zeit an Harpyien erinnern.

Es stellt sich heraus, dass der Unterweltgott Hades Kore entführt hat und die drei Sirenen reichlich wenig Schuld an diesem Umstand tragen. Doch machen Demeter und Persephone – so nennt sich Kore als Gattin des Hades – dennoch für die Entführung und daraus resultierende Hochzeit verantwortlich und verbannen die Sirenen auf einen kargen Felsen im Meer. Hier beginnen sie dann in Ermangelung an Alternativen mit ihrem Gesang Fischer und andere Seefahrer herbeizulocken und dann zu fressen.

Jason und Odysseus

Eines Tages nähert sich schließlich die Argo mit Jason, Medea und den übrigen Argonauten. Geistesgegenwärtig drückt Medea Orpheus eine Leier in die Hand, sodass dessen schöner Gesang die Sirenen übertönt. Zumindest einer der 50 Männer verfällt dennoch den Sirenen, doch wird er von Aphrodite persönlich gerettet.1

Eine Generation später kreuzt der irrfahrende Odysseus die Insel der Sirenen. Bekanntlich hat der König von Ithaka seine Männer angewiesen, sich die Ohren mit Wachs zu verschließen, während er sich selbst am Schiffsmast festbinden lässt und dem verführerischen Gesang auf diese Weise widersteht.

Der Tod der Parthenope und die Geburt der Sirenen

Völlig frustriert von diesem erneuten Scheitern hat Parthenope genug und stürzt sich in die Fluten und somit in den Tod. Doch ihr Vater Acheloos bringt ihren leblosen Körper zu einer einsamen Insel, auf der Persephone ihrer verstorbenen Gefährtin das Wasser als neues Element zuweist. Kurz darauf wird der Leichnam von einer Frau gefunden und bestattet. Als diese ein Kind verliert, stürzt sie sich an der Stelle des Grabes in die Fluten, wo ihr Acheloos im Gedenken an seine Tochter die Option anbietet, zur „Meerjungfrau“ zu werden. Sie nimmt das Angebot an und wird so die erste der Sirenen, die erste – im übertragenen Sinne – der Töchter der Parthenope.

Roxane Bicker
Autory Roxane Bicker

Die Sirenen in der antiken Überlieferung2

Frühe Darstellungen

Die Erzählungen, die Roxane Bicker in dieser Kurzgeschichte aufgreift, stammen in dieser Form aus relativ später Zeit. In den frühen schriftlichen Zeugnissen wie z.B. der Odyssee erfahren wir realtiv wenig über die Sirenen, nicht einmal, wie sie aussehen. Auch gibt es zu dieser Zeit nur zwei Sirenen, die noch keine individuellen Namen tragen (Homer, Odyssee 12,52). Hier locken sie übrigens nicht nur mit ihrem Gesang, sondern bieten Odysseus auch Allwissenheit an (Homer, Odyssee 12,39-54 und 12,158-200).

Auf Vasen treten sie ab dem 7. Jh. v.Chr. als Mischwesen in Form von Vögeln mit Menschenköpfen auf, wobei sie gelegentlich auch männlich und bärtig sind. Ab dem 6. Jh. werden die Sirenen dann allmählich weiblicher in ihrer körperlichen Erscheinung, haben Brüste und auch Arme. Eine der populärsten antiken Darstellungen findet Ihr hier.

Die spätere Überlieferung

Bei der Begegnung mit den Argonauten werden die Sirenen in der Argonautika (3. Jh. v.Chr.) – wie eben bereits bei Roxane Ricker gehört – von Orpheus übersungen (Apollonios von Rhodos 4,891-919 und 4,1264-1290). Erst im Gedicht „Alexandra“, das vermutlich frühestens im 2. Jh. v.Chr. verfasst worden ist, stürzen die Sirenen sich in den Tod – wohl nachdem Odysseus ihnen entwischt ist.3 Auch erfahren wir hier, welche der drei Schwestern wo an Land gespült und dann dort kultisch verehrt wurde: Parthenope bei Neapel, Leukosia bei Paestum (Poseidonia) und Ligeia bei Terina (Lykophron, Alexandra 714ff.).

Bei Ovid (43 v.Chr.-17 n-Chr.) hören wir schließlich, dass die Sirenen die Göttinnen und Götter darum baten, Vogelkörper zu erhalten, um aus der Luft besser nach Kore suchen zu können (Ovid Metamorphosen 5,552–563). Bei Hyginus Mythographus (Zeit des Augustus oder 2. Jh. n.Chr.) erfolgt die Verwandlung dann als Bestrafung durch Demeter und es wird gesagt, dass die Sirenen nur so lange leben würden, bis jemand ihrem Gesang entkommen würde, was später schließlich Odysseus gelingen sollte. Hier sind die Sirenen dann auch Töchter der Melpomene, der Muse des Trauergesangs (Hyginus Fabulae 161), was schön dazu passt, dass die Sirenen ab dem 5. Jh. v.Chr. im Zusammenhang mit der Totenklage im Grabkontext dargestellt werden.

Vom Vogelwesen zur Meerjungfrau

Obwohl man Sirenen eher mit Vogelgestalt in Verbindung bringt, ergibt sich aus den oben zusammengefassten Erzählungen in mehrerer Hinsicht ein klarer Bezug zum Meer. Es kann sein, dass es bereits in der Antike Darstellungen der Sirenen als „Meerjungfrauen“ gab. Sicher ist, dass diese Vorstellung im Mittelalter richtig populär wurde. Heute ist es teilweise sehr schwer, zwischen Sirenen, Meerjungfrauen, Nixen und Wasserfrauen zu unterscheiden, da sich manche Charakteristika dieser Wesen ähneln, während es in der allgemeinen Vorstellung von ihnen teilweise zu Vermischungen gekommen ist.

Dass Frauen, die den Freitod im Wasser wählen, zu Sirenen werden, scheint Roxane Bicker als neue Idee zum vorhandenen Fundus hinzugefügt zu haben, wobei in diesem Zusammenhang womöglich die Loreley eine Inspirationsquelle gewesen sein könnte.

Zurück zu „Wellenbrecher“

Wie wir gesehen haben bietet „Parthenopes Töchter“ aus Perspektive der Antikenrezeption eine sehr schöne Ergänzung zu „Wellenbrecher“. Da der Roman den Untertitel „Gezeitenwechsel 1“ trägt, ist wohl davon auszugehen, dass wir zukünftig noch mehr über unsere Sirenen der Nordsee erfahren werden. Und wie Roxane Bicker bereits in unserem Podcast angekündigt hat, wird es in den Bänden 2 und 3 der Reihe ausführlichere Bezüge zur klassischen Antike geben (ab Minute 1:14:04). Band 2 der Reihe trägt jedenfalls den Titel „Windgejammer“ und soll im Herbst 2022 erscheinen.

Wenn Ihr mehr über Roxane Bicker erfahren möchtet, hört Euch gerne unser gemeinsames Gespräch im fantastischeantike.de-Podcast an. Außerdem hat sie hier noch einen Artikel zu den ägyptischen Vorläufern des Aschenputtel-Märchens für uns geschrieben.

Sirenen Roxane Bicker Wellenbrecher
Roxane Bicker: „Wellenbrecher“ und „Parthenopes Töchter“

Literatur

B. Bäbler: Sirenen. [2] II. Ikonographie, in: Der Neue Pauly 11 (2001), 593-594.

R. Nünlist: Sirenen. [1] I. Mythologie, in: Der Neue Pauly 11 (2001), 593-594.

Michael Kleu

Anmerkungen

  1. In „Parthenopes Töchter“ wird er nicht namentlich genannt, doch handelt es sich bei dem Mann um Butes, den Sohn des Teleon, der mit Aphrodite den Eryx zeugt und König der in Sizilien lebenden Elymer. Vgl. Bibliotheke des Apollodor 1,135 und Apollonios von Rhodos, Die Fahrt der Argonauten 4,885–921.
  2. Wie so oft ist auch in Bezug auf die Sirenen die Quellenlage wesentlich umfangreicher, als ich sie hier vorstellen kann. Es finden sich in den antiken Zeugnissen also noch weitere Varianten, die an dieser Stelle keine Erwähnung finden.
  3. In anderen Varianten führen die entwischten Argonauten oder ein Wettstreit mit den Musen den Tod der Sirenen herbei. Vgl. Orphische Argonautica 1288f. und Stephanos von Byzanz, s.v. Aptera.

3 Kommentare zu „Sirenen in der Nordsee: Roxane Bickers „Wellenbrecher“

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  1. Der Name Parthenope ist wirklich interessant gewählt. Warum? In der griechischen Mythologie wird Parthenope tatsächlich namentlich als Sirene genannt. Heute kann man natürlich tolle Romane darüber schreiben. Romane haben den Vorteil, dass sich Ereignisse umschreiben lassen und neue Storys kreiert werden können. Gemäß der griechischen Mythologie ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die eine oder andere Sirene überlebt hat. Wahrscheinlicher ist es, dass sich alle Sirenen das Leben genommen haben ->

    https://www.mythologie-antike.com/t279-sirene-parthenope-mythologie-sirenen-locken-mittels-gesang-seefahrer-an-um-sie-zu-toten

    1. Holger, hast Du den Text gelesen, bevor Du kommentiert hast? Es steht doch alles schon im Text. Ich erkläre dort ausführlich, was es mit den Sirenen und Parthenope auf sich hat. Natürlich gibt es tatsächlich eine Parthenope in der griechischen Mythologie. Darum geht es doch.

      1. @Michael Kleu

        Ich hatte ganz vergessen, worauf ich hinaus wollte. Nämlich darauf, dass es auch eine russische Adaption der Sirenen gibt:

        „In Russland treiben sich Monster mit der Bezeichnung Sirin herum. Die Bestie Sirin ist ein Mischwesen zwischen Vogel (einer Eule ähnlich) und Frau. Wenn Menschen einer Sirin begegnen, sollten sie sich unverzüglich die Ohren zuhalten und das Weite suchen. Warum? Sirin singen – und zwar betörend schön. Wer als Sterblicher den Klängen einer Sirin lauscht, gerät in Trance und folgt blind dem Gesang der Sirin. Wohin führt das Folgen vom Gesang einer Sirin? Direkt in den Tod!“ ->

        https://info-allerlei.de/killer.php

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