Veröffentlicht: 5. Juni 2020 – Letzte Aktualisierung: 21. September 2022
[Der folgende Artikel erschien ursprünglich auf https://gespielt.hypotheses.org/]
“simulation — The representation of physical systems by computers, models, and associated equipment.” – Glossary of Terms in the Field of Computers and Automation1
“A game is a human player simulation of a dynamic model of some abstract, symbolic or real-world process.” – Clark C. Abt: Education is Child’s Play2
Das älteste Geschichte inszenierende digitale Spiel
Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe, hat mich das Jahr 2017 auf der Suche nach dem ältesten digitalen Spiel mit historischem Inhalt zum Sumerian Game geführt und damit auf eine lange Reise durch die Jahre 1962-1968 zurück bis ins Jahr 3500 vor Christus: Also passenderweise im doppelten Sinn eine Reise an den Anbeginn, einmal an den der schriftlich erfassten Menschheitsgeschichte und dann noch an den digitaler Spiele, die diese Geschichte verarbeiteten. Ein Zufall, der den Beteiligten wohl kaum bewusst war. Die zentrale Idee des Spiels war es, die Spielenden in die Rolle dreier aufeinander folgender Herrscher des Stadtstaates Lagash im Mesopotamien des 4. Jahrtausends vor Christus zu versetzen und sie wesentliche Entscheidungen treffen zu lassen, von denen die Ernte, das Bevölkerungswachstum und die technische Entwicklung abhingen. In den Vordergrund gestellt wurden dabei nicht so sehr „historische“ Details des Szenarios, sondern die vermuteten grundlegenden ökonomischen Prinzipien, die das Spiel begreifen helfen sollte und für die die historische Inszenierung einen beispielhaften Rahmen bot. Bruse Moncreiff (1919-1985)3, damals Mitarbeiter des Northeastern Bureau bei IBM und einer der maßgeblichen Initiatoren des Projekts, stellte die Wahl Sumers als Gegenstand des Spiels als unmittelbare Reaktion auf zeitnahe Umstände dar:
“The immediate reason for the choice of the Sumerians was to protest against the growing tendency in school curricula to ignore the pre-Greek civilizations, in spite of the growing weight of scholarly evidence as to the important role which this pre-history and early history should play in our understanding of the processes by which our society has come to be what it is.”4
Wohl bewusst war man sich allerdings des Pioniercharakters dieses Unterfangens. Man sprach von einer „simulierten Umgebung“, wie der methodische Ansatz getauft wurde („simulated environment“), und kommunizierte das auch entsprechend. Die regionale North Westchester Times schrieb dazu im Juli 1963:
“The project is called ‘simulated environment’ and is under the directions of Dr. Richard Wing, BOCES research coordinator. It is described as being the only one of its kind and basically aims to place courses in chemistry and social studies on teaching machines. Beginning work on the project was sponsored in workshop fashion by IBM in Yorktown last summer. BOCES took over the project at the end of the workshop and applied for federal aid which was granted.”5
Das Sumerian Game entstand aus der “Social Studies”-Projektlinie des gerade erwähnten Förderantrags auf US-Bundesmittel. Aber noch einmal genauer: Wo und wann befinden wir uns eigentlich? Und wie entwickelte sich aus der ursprünglich vagen Idee ein Spiel?
Die Entstehung
Also von Anfang an: Im Juni 1962 veranstaltete das Thomas A. Watson Research Laboratory, IBM, einen zweitätigen Workshop in Yorktown, Bundesstaat New York, USA.6 Ausrichter war die Advanced Systems Development Division IBMs,7 wahrscheinlich auf Initiative Moncreiffs.
Aus diesem Workshop entwickelte sich ein Antrag auf Förderung durch US-Bundesmittel des Office of Education im Rahmen eines sogenannten Cooperative Research Projects, der als CRP No. 1948 „Use of Technical Media for Simulating Environments to Provide Individualized Instruction“ genehmigt wurde. Das Projekt lief unter der Leitung Richard L. Wings (geb. 1935)8, des damaligen Leiters der Abteilung für curricurale Entwicklung am Board of Cooperative Educational Services (BOCES)9 des Countys Northern Westchester als Kooperation dieser Einrichtung und des New York State Education Departments (als ausführende Behörde für das US Office of Education) von Februar 1963 bis Februar 1965.10 Zumindest wurde es für diese Zeitspanne bewilligt – denn nach Wings eigener Aussage lief es nur bis zum August 1964, und 1965 wurde der Abschlussbericht vorgelegt.11
In CRP 1948 wurden Konzepte für acht verschiedene „Subprojects“ vorgelegt, deren einziges als Spiel bezeichnetes das achte, eben das Sumerian Game war, das offenbar in diesem Projekt bereits in einer verkürzten Vorform programmiert wurde. Der Abschlussbericht führt als Anlage einen „Sample Printout“ auf,12 und auch Moncreiff verwies schon 1965 darauf, dass eine gekürzte Version des Spiels im IBM Mohansic Laboratory verfügbar sei.13 Bereits gegen Ende von CRP 1948 stellte Wing einen Folgeantrag, der als CRP No. 2841 unter dem Titel „The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade” genehmigt wurde. Das Projekt lief von Anfang 1965 bis Anfang 1967. Die lokale Zeitung Patent Trader veröffentlichte schon im Oktober 1964 erste Details zu Projekt 2841, wie die Installation von drei IBM 1050-Terminals und die Höhe der bewilligten Fördersumme: 17.269 US$14 – was wohl ein Fehler sein dürfte, denn ein Jahr später wurde diese Summe bereits mit möglicherweise realistischeren 177.000$ angegeben.15 Ziel dieses Projekts war die vollumfängliche Realisierung dreier spielförmiger simulierter Umgebungen, des Sierra Leone Game, des Free Enterprise Game – und des Sumerian Game. Denn was bis 1965 entstanden war, genügte offenbar den Anforderungen der Projektteilnehmer nicht. Die finale Version dürfte also im Jahr 1967 fertiggestellt worden sein. Sie wurde nicht nur zu Unterrichtszwecken herangezogen, sondern erregte auch Aufsehen in der einschlägigen Fachwelt.16
Digitale Rekonstruktion?
Aber – und hier wird es für die historische Betrachtung schwierig – das Spiel selbst, also der ursprüngliche Programmcode, ist verloren. Devin Monnens ‘ Recherchen führten im Jahr 2012 immerhin dazu, dass die begleitenden Dia-Tafeln sowie drei Ausdrucke einzelner Spielsitzungen ausfindig gemacht werden konnten, die seither in der Brian Sutton-Smith Library and Archives of Play at the Strong als Sumerian Game Collection aufbewahrt werden. Monnens konnte aber nie Überreste des Programmcodes ausfindig machen,17 und das bestätigen sowohl das IBM-Archiv18 als auch das der Johns Hopkins University, Baltimore, auf deren Mainframe-Computern das Spiel in seiner überarbeiteten 1967er-Version lief.19 Und wo kein Code ist, kann man kein digitales Spiel spielen. Es stellt sich also die Frage, ob es sinnvoll sein könnte, auf Grund der bislang vorliegenden Anhaltspunkte und Überreste eine digitale Rekonstruktion des Sumerian Game zu versuchen.
Aber meines Wissens nach gibt es keine vergleichbaren Projekte – wenn historische Spiele20 digital neu funktional gemacht werden, geht es darum, sie auf aktuelle Systeme zu portieren und somit existierende Software wieder zugänglich zu machen. Eine Rekonstruktion, die ausschließlich auf den Überresten der äußeren Formen des Spiels basiert, wäre eine neuartige Unternehmung. Vorstöße in Forschungslücken und methodische Innovation! Genau dafür wurde der Arbeitskreis für Geschichtswissenschaft und digitale Spiele gegründet. Daher habe ich im Vorfeld dieses Beitrags per Mail eine Diskussion über die Hinweise und Kriterien angeregt, die bei einer solchen Rekonstruktionsarbeit prinzipiell beachtet werden müssten – ganz bewusst ohne das Spiel zu nennen, anhand dessen diese Prinzipien dann möglicherweise umzusetzen wären. Daraus ergaben sich folgende wesentliche Punkte:
„2. Ad Rekonstruktion: Es muss eine kritische Masse an Designinformation vorhanden sein, die es erlaubt, ganze Teil-Spielabläufe zu rekonstruieren. Kritische Masse wäre für mich, dass ich gewisse Aspekte, zB die Grundlagen des Kampfsystems, den Charakterbildschirm, die High Scores, den ersten Level mit Endboss whatever als Einheit identifizieren kann.
3. Ad Spielbar: Regelsets und Interaktionsmöglichkeiten müssten ziemlich weitgehend vorhanden sein, zB müsste ich wissen, dass man das Raumschiff nur up down left right bewegen konnte und dass es zwei Waffen gab, eine Bordkanone und eine Spezialwaffe. Weiters müsste ich wissen, wie die Eingabe erfolgt – Joystick etc.“21 Gernot Hausar
„Wenn möglich, würde ich hier versuchen mit der originalen Programmiersprache zu arbeiten, auch wenn sie ‚veraltet‘ ist. Dies könnte man erneut mit historischen Rekonstruktionen vergleichen, in denen versucht wurde nicht nur einen bestimmten Gegenstand wiederherzustellen, sondern ihn auch unter den angenommen Bedingungen (also gleiche Werkzeuge etc.) zu rekonstruieren. Programmiersprachen sind ja nun Sprachen mit Regeln und Restriktionen, die eben auch die Gestaltung und in der Folge das generelle Sein des Spiels beeinflussen. Für neue Hardware bedeutet dies natürlich, dass man das Spiel in einer virtuellen Umgebung emulieren muss, was zu weiterer Arbeit führt.“22 Rüdiger Brandis
„Zentral ist jedenfalls, dass sich die Rekonstruktion als solche zu erkennen gibt. Das hat ja auch Gernot schon angesprochen. Eine besondere und reizvolle Herausforderung liegt m.E. gerade darin eine entsprechende Transparenz herzustellen. Im Wesentlichen heißt das, dass die Rekonstruktion nicht vorgeben darf, etwas wiederherzustellen, das einmal war. Vielmehr bleibt die Rekonstruktion immer etwas Eigenes, sie verweist auf etwas Abwesendes. Hierin liegt ein Unterschied zum landläufigen Umgang mit Simulationen, wo gerne mal den Eindruck erweckt wird, dass es möglich sei so etwas wie Deckung mit dem Simulierten herzustellen.“23 Josef Köstlbauer
Was vom Spiel übrigblieb: Bestandsaufnahme
Diese Punkte gilt es also zu bedenken. Wie sieht es nun mit dem Sumerian Game in dieser Hinsicht aus?
Überlieferungslage 1: Hardware, technisches Ensemble, Gameplay
Die erste und vielleicht ernsthafteste Schwierigkeit liegt in der Komplexität des technischen Arrangements, innerhalb dessen das Sumerian Game als Spiel Gestalt annahm. Dem technologischen Stand des Jahres 1967 geschuldet interagierten die SpielerInnen innerhalb eines Ensembles aus verschiedenen Geräten mit dem Programm.
Zentrales Eingabegerät war das IBM 1050-Terminal. Das Terminal, ein Kasten von der Anmutung eines kleinen Schreibtisches mit einer großen elektrischen Schreibmaschine darauf, diente allerdings nur dazu, die Eingaben der Spieler entgegenzunehmen und sie an den eigentlichen Computer, einen IBM-Mainframe-Großrechner, im Hintergrund zu übermitteln. Dafür war das Terminal über ein Dataphone, den Vorläufer des Modems, via Telefonleitung mit dem Mainframe verbunden. Die für das Sumerian Game genutzte Rechenanlage vom Typ IBM 7090 befand sich in den Anlagen der IBM East Coast Advanced Systems Development Division in Yorktown Heights.24 Die Spielereingaben wurden ebenso wie die Ausgaben des Spiels auf der ins Terminal eingespannten Endlospapierrolle ausgedruckt, ein Format, das den Nachteil hatte, dass damit nicht besonders viele Informationen zur selben Zeit übermittelt werden konnten, denn das Lesen längerer Texte wäre enorm unpraktisch geworden.
Außerdem war die Speicherkapazität des Mainframes aus heutiger Perspektive sehr begrenzt. Größere nicht programmrelevante Informationsmengen direkt im Code, also auf dem Mainframe abzulegen, wäre allein schon aus Platzgründen schwierig geworden. Um dieses Problem zu beheben, wurden sowohl visuelle wie auditive Teile des Spiels auf andere Geräte ausgelagert, die mit dem Terminal gekoppelt waren und darüber vom Mainframe aus ferngesteuert werden konnten. Angeschlossen waren ein Diaprojektor sowie ein Tonbandgerät, deren Aufnahmen jeweils zu bestimmten Punkten im Spiel gestartet wurden. Zusätzlich auch „cathode-ray tube display devices“ – also Röhrenbildschirme – anzuschließen wurde lediglich erwogen, aber wohl nicht realisiert.25 Während 39 Dias in der Sumerian Game Collection erhalten sind, wissen wir von den Tonbandaufnahmen allerdings nur durch den Abschlussbericht des Projektes:
„Since the earlier approach relied heavily upon the printed word as a means of communicating with the student, a diversification in the range of learning in-put was introduced by the use of the tape recorder. In a series of problem-solving situations the ruler was given the opportunity to listen to a tape which recorded the simulated discussion of a cabinet of advisors. At the conclusion of each tape he was redirected to the printed word of the terminal to record his decisions. The introduction of an audio court news bulletin also relieved the reading routine and added interest to the play.”26
Dass dieses Arrangement anscheinend funktional war, zeigt sich in der Überlieferung zum einen anhand einer Fotoserie, die von IBM zu Pressezwecken 1968 angefertigt wurde und von der in alten Pressemitteilungen zwei Aufnahmen im IBM-Archiv erhalten geblieben sind (man beachte die verschiedenen Dias, die im Hintergrund eingeblendet werden).27
Zum anderen weisen Berichte in der zeitgenössischen Lokalpresse ebenso darauf hin28 wie die Rezeption im damaligen fachwissenschaftlichen Diskurs, wo es unter Verweis auf das Sumerian Game als Beleg hieß:
“The computer program can integrate and control a wide variety of audio-visual aids in the learning program, for enrichment and motivation. The computer can also provide dynamic real time displays of mathematical and physical relationships, and relieve the students of a large number of routine calculation.”29
Die tatsächlichen Interaktionsmöglichkeiten innerhalb dieses Arrangements, also sowohl Gameplay wie Interface, waren allerdings reduziert auf die Eingabe von Befehlen per Tastatur und sind in den noch vorhandenen Beispielausdrucken überliefert (im folgenden Beispiel ist das Rot der Spielereingaben bereits nach den Angaben des Abschlussberichts rekonstruiert).30
Überlieferungslage 2: Das Programm
Hinsichtlich des Spiels als programmierter Code ist die Überlieferungslage deutlich schlechter. Der Abschlussbericht von 1967 gibt immerhin Aufschluss über die technischen Spezifikationen:
„The coding language […] was Fortran Assembly Program (FAP) with a few additional control cards for file loading purposes. The Sumerian Game used about 15,000 lines of instructions and approximately 37,000 memory places in the TSM [=Time Shared Monitor] computer system.”31
Die verwendete Programmiersprache dürfte also FORTRAN 66 gewesen sein, da mit William McKay ein hauptamtlicher IBM-Programmierer die technische Umsetzung übernahm und IBM diesen ersten Industriestandard im Fortran-Bereich mit entwickelt hatte. Hierbei stellt sich für eine Rekonstruktion das Problem, das FORTRAN 66 als mit einigen Fehlern behaftete Codesprache gilt. Der Abschlussbericht hilft aber noch in zusätzlicher Weise weiter, obwohl er nicht eine Zeile Code selbst enthält, indem er einen großen Teil der für die Modellierung der Simulation verwendeten Basisgleichungen mitliefert. Denn wie Moncreiff bereits 1965 bemerkt hatte:
„It takes more than a set of maps, king-names, customs and potsherds to build a socio-economic model of a civilization. lt would, of course, be a falsification not to present the model to the student in terms of Sumerian artifacts, but material about the artifacts just is not enough, There must also be a model which includes the function relationships between the major,[sic] economic and social variables.”32
Da sind zunächst einmal 38 generelle Axiome der Spielwelt in allgemeiner Formulierung nach dem Muster:
„V. The economic system attempts to find the proper balance between consumption, savings, and investment.
There is one best ratio wherein Luduga [=SpielerIn, TW] sets aside a certain amount of grain for planting, a certain amount for inventory, and a certain amount for consumption.”33
Hinzu kommen die vier grundlegenden “Formulas relating harvest to seed planted, land cultivated and number of farmers”; die Algorithmen zur Ausgabe verschiedener Nachrichten an die Spielenden; die Formeln zur Berechnung der Getreideverlustraten bei Lagerung; die Textbausteine und Formeln zur Zusammenstellung der periodischen Fortschrittsberichte an die Spielenden; die Formeln zur Bevölkerungsentwicklung und zur Berechnung des Getreideverbrauchs; das Pfaddiagramm zur Erzeugung der zufällig auftretenden Naturkatastrophen; und die dafür benötigte Prozedur zur Erzeugung von Zufallszahlen.34
Obwohl also deutliche Leerstellen vorhanden sind, gibt es dennoch auch eine große Zahl von Ansatzpunkten für den Versuch einer Rekonstruktion.
Rekonstruieren: Sinnvoll oder nicht?
Zwei Fragen drängen sich an dieser Stelle auf: Erstens, wie könnte eine solche digitale Rekonstruktion eines Spiels als einer Simulation der Simulation eines Modells (des „Sumerian Economic Model“, wie sich das Sumerian Game selbst nannte35) denn nun aussehen? Und zweitens: Wofür der ganze Aufwand – lohnt sich das überhaupt?
Die erste Frage ist so einfach wie schwierig zu beantworten, denn während sie sich theoretisch leicht klären lässt, ist sie auch untrennbar mit der zweiten verbunden, was es praktisch wieder kompliziert macht. So ungefähr könnte der Rekonstruktionsversuch in Abwandlung des obigen Schemas aussehen:
Natürlich sind die fehlenden Audiodateien ein grundsätzliches Problem; aber das ließe sich lösen, indem dieser Teil als eindeutig rekonstruiert ausgewiesen und zum Abschalten freigegeben würde. Schwieriger ist das primäre Eingabegerät. Während sich der Mainframe problemlos emulieren ließe, denn er war ja auch in der damaligen Spielsituation nie präsent, gestaltet sich das mit dem Terminal schwieriger. Sicherlich ließe sich auch das emulieren und als Bildschirmeingabefeld gestalten: Aber das wäre innerhalb der „simulativen Umgebung“, die das originale Ensemble bereitstellen sollte, eine sehr drastische Änderung sowohl der Optik und Haptik als auch der Interaktionsmöglichkeiten mit der maschinellen Komponente des Spiels. Aber wäre der schwierig zu bewerkstelligende Einbezug eines originalgetreuen IBM 1050-Terminals wirklich besser?
Das kommt sehr darauf, was man wissen will, wie Josef Köstlbauer in seinem Diskussionsbeitrag zu Recht angemahnt hat. Wozu sollte eine solche Rekonstruktion dienen? Ich fände sie reizvoll hinsichtlich zweier Aspekte: Zum einen stellt sich die Frage, warum dieses sehr elaborierte Konzept eines digitalen Spiels – und von einem Videospiel kann man hier wirklich nicht mehr sprechen, weil kein Bildschirm einbezogen ist – so völlig in der Versenkung verschwand. Ein Argument dafür wäre neben der Komplexität des zu bewältigenden technischen Ensembles sicherlich das der Kosten, das auch in der zeitgenössischen Literatur schon kritisch angemerkt wurde – allerdings mit dem Zusatz, man wisse über diesen Faktor gar nicht genug:
“Actually, there are so many variables involved, such as quality of instructional materials, level of instruction, and extent of validation, that rules of thumb such as the above are not very helpful. The literature is almost completely silent on cost-benefit analysis.”36
Auch Wings Abschlussbericht schweigt sich darüber aus, aber aus der zeitgenössischen Tagespresse lässt sich entnehmen, dass das BOCES 1966 für eine Stunde Mainframe-Nutzung pro Schüler 6 US$ zahlte,37 damals keine kleine Summe. Um das wirklich einschätzen zu können, bliebe uns aber nur, das Ensemble zu rekonstruieren und dann auszutesten, was die entscheidenden Fallstricke in dieser Konfiguration gewesen sein könnten.
Und zum anderen würde ich mir von einer solchen Simulation Aufschlüsse darüber erhoffen, warum offensichtlich der Gedanke daran, dass ein digitales Spiel ein Hypermedium unter Einschluss von Bild, Ton, Text und Interaktion sein müsse, schon vorhanden war, bevor die zur Verfügung stehenden Computer solche Möglichkeiten überhaupt boten – so dass zu derart komplizierten Hilfskonstruktionen gegriffen werden musste.
Ob das von diesem Ausgangspunkt aus und in dieser hier ja auch nur fragmentarisch skizzierten Weise möglich und erfolgsversprechend wäre, möchte ich hiermit aber noch einmal ganz ausdrücklich zur kritischen Diskussion stellen. Die Materialien, die ich bislang einsehen konnte, zeigen das nicht, aber aus der Berichterstattung lässt sich entnehmen, dass dieses Spiel noch kein „Game Over“ kannte. Verloren zu haben wurde den Spielenden offenbar so verkündet:
„Your population has decreased to zero. Do not go on. Call the teacher.”38
Also, meine Damen und Herren an den Empfangsgeräten: Wäre eine solche Rekonstruktion nun ein sinnvolles Projekt – oder nicht?
Über den Autor
Dr. Tobias Winnerling arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit der Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Er zählt zum Leitungsteam des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und digitale Spiele.
Anmerkungen
[1] O. A.: Glossary of Terms in the Field of Computers and Automation (Glossary, Third Edition, December 10, 1955), in: Computers and Automation, 5, 01/1956, S. 15-31; hier S. 29.
[2] Clark C. Abt: Education is Child’s Play, unpublished paper, 1965, S. 7., zit. nach: G. Milburn: Simulations in history teaching: promising innovation or passing fad?, in: Teaching History, 2, 7/1972, S. 236-241; hier S. 236.
[3] Vgl. https://newspaperarchive.com/bruse-moncreiff-obituary-240719620/.
[4] Bruse Moncreiff: “The ‚Sumerian Game‘: Teaching Economics with a Computerized P.I. Program”, in: Programed Instruction, 4, 5/1965, S. 10-11; hier S. 10.
[5] O.A: Allen Visits Area To See New Project, in: North Westchester Times, 11. Juli 1963, S. 2.
[6] Vgl. Bruse Moncreiff: “The ‚Sumerian Game‘: Teaching Economics with a Computerized P.I. Program”, in: Programed Instruction, 4, 5/1965, S. 10-11; hier S. 10.
[7] Albert E. Hickey, John M. Newton: Computer-Assisted Instruction. A Survey of the Literature, 2. Aufl., Newburyport, Massachusetts 1967, S. 14.
[8] Ich konnte kein Sterbedatum ermitteln, möglicherweise lebt Richard Wing also noch. Er wäre jetzt etwa 82 Jahre alt.
[9] Eine regionale Einrichtung der Schulbehörden im Staat New York, in der die Ressourcen mehrerer Schulen eines Bezirks für gemeinsame Nutzungen zusammengefasst werden.
[10] US Office of Education: Cooperative research projects; a seven-year summary, July 1, 1956-June 30, 1963 (= Circular on Cooperative Research Projects No. 736), Washington 1964.
[11] Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. ii.
[12] Richard L. Wing: Use of Technical Media for Simulating Environments to Provide Individualized Instruction, Yorktown Heights 1965, S. iv.
[13] Bruse Moncreiff: “The ‚Sumerian Game‘: Teaching Economics with a Computerized P.I. Program”, in: Programed Instruction, 4, 5/1965, S. 10-11; hier S. 11.
[14] O. A.: “Latest Word in Teachers”, in: Patent Trader, 08. Oktober 1964, Titelseite. Zum Vergleich: Das Jahresgehalt eines Programmierers lag zu diesem Zeitpunkt bei ca. 15.000$.
[15] Joan Booth: “Education: Experiments To Experience”, in: Patent Trader, 17. Januar 1965, S. 7.
[16] Vgl. z.B. die Erwähnungen in: Donald D. Bushnell, Dwight William Allen, Association for Educational Data Systems (Hg.): The computer in American education, New York 1967, S. 60, 62, 106-107; [Entelek Inc. (Hg.)]: Computer-assisted Instruction Guide, Newburyport 1968, S. ix, 22-23; David W. Zuckerman, Robert E. Horn, Paul A. Twelker: The Guide to Simulation Games for Education and Training, Cambridge (Mass.) 1970, S. 115-116; William B. Ragan, John D. McAulay: Social studies for today’s children, New York 1973, S. 263. Es gibt noch unzählige andere Erwähnungen in der Fachliteratur der späten 1960er und frühen 1970er; allein dieser Diskurs wäre sicherlich eine eigene Studie wert. Noch jemand auf der Suche nach einem Thema?
[17] Mail an mich vom 07. November 2017.
[18] Mails an mich vom 22. November und 06. Dezember 2017.
[19] Mails an mich vom 29. November und 05. Dezember 2017.
[20] Also Spiele als historische Objekte, die selbst als Bestandteile geschichtlicher Prozesse in den Fokus rücken, im Unterschied zu Geschichte inszenierenden Spielen, die als Medien, die Geschichte darstellen, untersucht werden. Mein zusammen mit Florian Kerschbaumer 2014 vorgelegter Vorschlag, die Objekte der zweiten Perspektive als historisierende Spiele zu betrachten, behält dabei seine Gültigkeit – allerdings scheint mir diese Gruppe tatsächlich eher eine wenn auch große Teilmenge der Geschichte inszenierenden Spiele darzustellen.
[21] Mail an die AK-Liste vom 01. Dezember 2017.
[22] Mail an die AK-Liste vom 02. Dezember 2017.
[23] Mail an die AK-Liste vom 02. Dezember 2017.
[24] Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 60.
[25] Vgl. Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 13.
[26] Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 16.
[27] IBM, Northeastern Bureau: Special Placement to the Newspaper Enterprise Association on February 15, 1968 [IBM Corporation Archives], S. 2; Board of Cooperative Educational Services: Press Release for Tuesday, March 19, 1968 [IBM Company Archives], S. 4.
[28] O. A.: “Latest Word in Teachers”, in: Patent Trader, 08. Oktober 1964, Titelseite: “Eventually, a screen will be hooked into the terminal so the computer can reply by flashing a picture.”
[29] Robert F. Bundy: “Computer-Assisted Instruction: Where Are We?”, in: The Phi Delta Kappan, 49, 8/1968, S. 424-429; hier S. 425.
[30] Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 62.
[31] Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 60.
[32] Bruse Moncreiff: “The ‚Sumerian Game‘: Teaching Economics with a Computerized P.I. Program”, in: Programed Instruction, 4, 5/1965, S. 10-11; hier S. 10.
[33] Vgl. Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 18-21; hier S. 18.
[34] Vgl. Richard L. Wing: The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, S. 22-30.
[35] Richard L. Wing, The production and evaluation of three computer-based economics games for the sixth grade, Yorktown Heights 1967, Appendix F: Sample Section of Sumerian Game Printout, S. 1.
[36] Robert F. Bundy: “Computer-Assisted Instruction: Where Are We?”, in: The Phi Delta Kappan, 49, 8/1968, S. 424-429; hier S. 426.
[37] Jill Nagy: “Computer-Age ‚Monopoly Game’ Teaches Basic Economics to Sixth-Grade Students”, in: Patent Trader, 20. März 1966, S. 13.
[38] Jill Nagy: “Computer-Age ‚Monopoly Game’ Teaches Basic Economics to Sixth-Grade Students”, in: Patent Trader, 20. März 1966, S. 13.
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