Über den Tellerrand geblickt – „The Middle Ages in Children’s Literature“ von Clare Bradford (Buchvorstellung)

Wie kürzlich schon einmal in Bezug auf die Keltenrezeption angemerkt, schadet es wohl nicht, gelegentlich einen Blick über den Tellerrand der Alten Geschichte hinaus zu werfen. Daher möchte ich mir heute ansehen, wie die Kolleginnen und Kollegen aus dem Mittelalter vorgehen, wenn sie die Rezeption der Mittelalterlichen Geschichte untersuchen. Diesbezüglich wurde mir Clare Bradfords „The Middle Ages in Children’s Literature“ empfohlen, da sich die Autorin auch einige Gedanken zur Methodik mache, woran es ja oft ein wenig mangelt.

Kommen wir zunächst zur Autorin selbst. Clare Bradford hat an den Universitäten Auckland, Wellington und Sidney studiert und an der letztgenannten Institution 1978 promoviert, bevor sie 5 Jahre später am selben Ort noch einen Master of Education anhängte (!). Leider wird in ihren öffentlich zugänglichen Lebensläufen nicht angegeben, was sie genau studiert hat, doch erwähnt sie auf ihrem Academia-Profil, dass sie ursprünglich Mediävistin gewesen sei, bevor sie ihren Arbeitsschwerpunkt auf Kinderliteratur verlegt habe. Heute ist sie emeritierte Professorin der School of Communication and Creative Arts an der Deakin University. Neben der Kinderliteratur zählen der Postkolonialismus und der Medievalismus – also die Mittelalterrezeption – zu ihren Forschungsinteressen.

Photo: Michael Kleu

Zu Beginn des Buches stellt Bradford zunächst einmal etwas fest, was auf die Antike in der Phantastik übertragen letztlich auch die Grundlage des vorliegenden Blogs ist: die Kinderliteratur ist voller Mittelalterrezeption. Dabei betont sie, dass „Mittelalter“, „mittelalterlich“ etc. alles recht ungenaue Begrifflichkeiten sind, die je nach Kontext unterschiedlich aufgefasst werden können, sodass in Anlehnung an Kathleen Davies und Nadia Altschul beim Mittelalter eher von einer von Zeitumständen abhängigen Idee als von einer konkreten Einheit auszugehen sei. Jedenfalls datiert Bradford das Mittelalter entsprechend des klassischen Musters grob vom 5. bis zum 15 Jh., wobei sie daran erinnert, dass die Aufteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit keine natürliche ist, sondern aus der Perspektive von Renaissance und Aufklärung erfolgte. Damit zeigt sich auch schon das nächste Problem des Begriffs, werden unter „Mittelalter“ doch 1.000 Jahre mit ihren jeweils eigenen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen zusammengefasst. (Man könnte hier noch auf geographische Unterschiede hinweisen, was Bradford jedoch nicht tut.) In ihrer Untersuchung möchte sie jedenfalls Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters untersuchen, wobei sie sich auf an Kinder adressierte Texte (u.a. auch Fantasy-Werke und Comics) konzentriert, die nach dem Mittelalter entstanden sind und gelegentlich zwar nicht viel mit dem historischen Mittelalter gemein haben, aber dennoch einige Einblicke in das Verhältnis zwischen Mittelalter und Moderne bieten können. Dabei möchte sie zeigen, dass das Mittelalter keineswegs vergangen, sondern noch sehr präsent ist.

Daher geht Bradford davon aus, dass Texte mit Bezug zum Mittelalter weniger über das eigentliche Mittelalter aussagen als vielmehr über die Kultur und die Zeit, in der sie entstanden sind. (Ähnlich verhält es sich ja auch beim Historienfilm.) Dabei betont sie am Beispiel der gothic fiction (Schauerliteratur) bzw. der gothic novel (Schauerroman) auch ein Problem, dass sich ebenso in Bezug auf die Antikenrezeption häufiger zeigt: Die Literatur des 18. Jh. platzierte ihre Schauererzählungen gerne im „finsteren“ Mittelalter. Da diese Erzählungen in der Folge stilprägend wurden, hat sich im Genre eben eine Idee des Mittelalters festgesetzt, die aus dem 18. Jh. stammt und die sich laut Bradford z.B. bei „Interview with the Vampire“ oder „Buffy the Vampire Slayer“ feststellen lässt, wobei jede erneute Übernahme zwangsläufig wieder Elemente der eigenen Kultur und der eigenen Zeit einfließen lässt. (Auf die Antike bezogen liegt etwas Ähnliches vor, wenn Shakespeare sich z.B. durch Plutarch inspirieren lässt und dann seinerseits spätere Kulturschaffende inspiriert usw.) Mit diesem Aspekt ist auch ein weiterer Punkt verbunden: Jede Übersetzung eines mittelalterlichen (oder antiken) Texts ist immer eine von den zeitlichen und kulturellen Lebensbedingungen der Übersetzenden abhängige Interpretation, die das Original in Nuancen verändern kann. Wenn Kulturschaffende also z.B. eine Übersetzung aus dem frühen 20. Jh. nutzen, übernehmen sie fast zwangsläufig diese Abweichungen vom Original, wobei sie auch ihrerseits wieder das Gelesene auf Basis ihrer eigenen Lebenserfahrungen interpretieren und somit womöglich wieder verändern. Daher ist eine Beschäftigung mit dem Mittelalter (oder der Antike) immer abhängig von der Lebenswelt der Personen, die diese Beschäftigung ausüben. (Vgl. zum Problem der Übersetzung die derzeitige Diskussion um Emily Wilson, die als erste Frau Homers Odyssee ins Englische übertragen hat und dabei wohl mit ein paar eigentümlichen Entscheidungen ihrer ausnahmslos männlichen Vorgänger aufräumte.)

Im weiteren Verlauf geht Bradford ein wenig auf Kinderliteratur und Medievalism Studies – also der Mittelalterrezeption als wissenschaftliche Fachrichtung – ein, wobei sie in diesem Kontext mit Recht die Ansicht ablehnt, dass die Medievalism Studies nur ein minderwertigerer Ableger der Mittelalterlichen Geschichte seien. Sympathischer Weise macht sie in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Mediävisten genauso wenig unmittelbar auf das Mittelalter zurückgreifen können wie Vertreterinnen und Vertreter der Medievalism Studies und dass hier wie dort die interpretativen und analytischen Ansätze von persönlichen Geschmäckern und Vorlieben sowie von (inter-)disziplinären Methoden abhängen. Letztlich kann ja auch die Mittelalterliche Geschichte lediglich versuchen, das Mittelalter zu rekonstruieren. Hier sieht Bradford einige Ähnlichkeiten zur Kinderliteratur als wissenschaftlichem Forschungsfeld, da auch die wissenschaftliche Betrachtung der Kinderliteratur wie die Medievalism Studies in den 1970er Jahren aufgekommen seien und innerhalb der Literaturwissenschaften ebenfalls häufig eher stiefkindlich behandelt würden. Außerdem werde beiden Wissenschaften eine gewisse Unernsthaftigkeit und Leichtgewichtigkeit vorgeworfen, was von Bradford überzeugend widerlegt wird. Als Unterschied zwischen Kinderliteraturwissenschaft und Medievalism Studies hält sie schließlich fest, dass Erstere sich mit den sozialisierenden und pädagogischen Zielen der Kinderliteratur auseinandersetze, während sich Letztere darauf konzentriere, wie Mittelalterbezüge der modernen Leserschaft die mittelalterliche Vergangenheit präsentiere und erkläre.

Im nächsten Unterkapitel der Einleitung geht es darum, dass Kinderliteratur häufig den ersten Kontakt eines Menschen mit dem Mittelalter darstellt, wofür dann auch ein paar berühmte Beispiele aufgezählt werden, für die dies belegt ist, wie etwa Ernest Hemingway oder John Steinbeck, die beide durch die Artussage und weitere mittelalterlichen Erzählungen geprägt gewesen seien. Dennoch finde die Kinderliteratur erst allmählich Einzug in die Medievalism Studies. In der Kinderliteraturwissenschaft konzentriere man sich hingegen sehr auf die Frage nach der Authentizität des dargestellten Mittelalters, was vermutlich damit zusammenhänge, dass wegen des Erstkontakts der Kinder mit dem Mittelalter aus Sicht einiger Forscherinnen und Forscher diesbezüglich alles seine Richtigkeit haben müsse, um keine falschen Grundlagen zu legen. Dieser Anspruch würde dann auch auf die Fantasy übertragen, die ja gerne auf Elemente des Mittelalters zurückgreift. Es folgen Überlegungen zu dem Umstand, dass aus der Wissenschaft stammenden Autorinnen und Autoren wie J.R.R. Tolkien allgemein aufgrund ihrer Profession eine besondere Autorität beigemessen werde, während auch andere Kulturschaffende besonders dafür gelobt würden, wenn ihre Darstellungen besonders authentisch seien. All dem steht Bradford etwas skeptisch gegenüber, schon allein aufgrund der schwer zu beantwortenden Frage, wie denn das „richtige“ Mittelalter aussehen müsse (s.o.).

Im letzten Teil der Einleitung stellt Bradford einige spannende Überlegungen dazu an, dass Kindheit und Mittelalter beide als unvollendete Vorstufen zu etwas darauf Folgendem wahrgenommen werden, bevor sie grob zusammenfasst, wie das Mittelalter in der Kinderliteratur verwendet werde: einerseits als romantisierende vorindustrielle und vortechnische Welt, deren Bewohnerinnen und Bewohner einfache und gesunde Leben führen; andererseits als primitive Zeiten oder Plätze, voll von Dreck, Armut, Krankheit und Aberglauben. In diese „mittelalterlichen“ Welten würden dann häufig moderne Probleme projiziert, wobei die so vollzogene Entfremdung womöglich dazu beitrage, Sachverhalte mit einer gewissen Distanz aus einer anderen Perspektive beurteilen zu können. So reflektieren Geschichten über den Kreuzzug die aktuellen Beziehungen zwischen Muslimen und Christen, während gerne auch Fragen nach Geschlechterrollen etc. aufgegriffen werden.

Somit geht es Bradford in ihrer Untersuchung nicht darum, zu bewerten, wie richtig oder falsch „das“ Mittelalter in der Kinderliteratur dargestellt wird. Vielmehr möchte sie die literarischen und kulturellen Funktionen der Mittelalterrezeption untersuchen, indem sie herausarbeitet, inwiefern mit Hilfe des Mittelalters Werte und Tugenden vertreten, positive wie negative Modelle menschlichen Verhaltens präsentiert und Spekulationen über zukünftige Welten durchgeführt werden.

Die Empfehlung, einen Blick in dieses Buch zu werfen, kann ich nur als eine äußerst gute Anregung bezeichnen, da Bradfords Studie tatsächlich mit methodischen Überlegungen versehen ist, die mich in meinen eigenen Studien von der Methodik her ein ganzes Stück weitergebracht haben. Dabei gefällt mir besonders die Argumentation gegen eine herablassende Behandlung der Rezeptionsgeschichte als „minderwertige“ Wissenschaft. Richtig spannend ist auch der oben kurz angesprochene Hinweis darauf, dass Kinderliteratur bzw. hinsichtlich meiner Studien die Phantastik für die Rezipierenden tatsächlich den ersten (und womöglich auch einzigen?) Kontakt mit Antike oder Mittelalter darstellen können.

Bei mir selbst waren es ganz klar die Odysseus-Verfilmung mit Kirk Douglas („Ulisse“, Italien 1954), verschiedene Monumentalwerke („Die 10 Gebote“, „Quo Vadis?“, „Ben Hur“ etc.) sowie diverse Sandalenfilme, deren Titel ich hier aus Reputationsgründen verschweige und in denen definitiv weder Herkules noch Atlantis vorkamen, die mich als Kind zur Alten Geschichte geführt haben. Auch Stanley Kubricks „Spartacus“ (1960) hat mich sehr geprägt, womit wir wieder bei Kirk Douglas wären, der mir auch in „Die Wikinger“ (1958) großartig gefallen hat, wobei ihn in beiden Rollen Tony Curtis zur Seite stand. Wenn ich mir überlege, welche Auswirkungen diese gesunde Mischung aus Meisterwerken und „Schundfilmen“ auf mich hatte, kann der Vermittlung der Geschichte durch Kinder- und Jugendbücher wohl kaum genug Aufmerksamkeit gewidmet werden, um zum Abschluss wieder die Kurve zu Clare Bradford zu bekommen.

Michael Kleu

8 Kommentare zu „Über den Tellerrand geblickt – „The Middle Ages in Children’s Literature“ von Clare Bradford (Buchvorstellung)

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  1. Sehr interessanter Beitrag, dem ich schon nur aus Vorschau einige Konzepte entnehme, über die ich nachdenken muss! Die Symmetrie der Geringschätzung für die Wissenschaftliche Betrachtung der Rezeption von Antike/Mittelalter sowie Phantastik/Kinderliteratur ist eine spannende Verbindung!

    1. Ja, die Verbindung ist sehr spannend!

      Ich habe gerade noch einen Satz zum Problem der Übersetzung hinzugefügt. Emily Wilson hat als erste Frau die Odyssee ins Englische übertragen, wodurch spannenderweise ein etwas anderes Buch entstanden zu sein scheint.

      1. Hab ich letztens auch gelesen. Während in älteren Versionen die Göttinen oder Frauen schonmal als „whore“ bezeichnet wurden, stellt Wilson richtig fest, dass derartige Zuschreibungen im Original völlig fehlen. Die Wirkung muss für engl Leser enorm sein, da sie mit einem viel besseren Frauenbild der Antike konfrontiert werden

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