Veröffentlicht: 4. März 2019 – Letzte Aktualisierung: 10. August 2022
Kontrafaktische Geschichte
Hannibal gewinnt den 2. Punischen Krieg
„Alternative“, „virtuelle“ oder „kontrafaktische“ Geschichte ist häufig sehr spannend und hilft uns außerdem zu begreifen, wie folgenschwer einzelne historische Ereignisse gewesen sind. Als klassisches Beispiel ist hier der Zweite Punische Krieg zu nennen, den die Römer 218-201 v.Chr. gegen Hannibal und Karthago führten. Was hätte sich geändert, wenn Hannibal den Krieg gewonnen und er Rom dauerhaft auf den Status einer Klein- oder Mittelmacht reduziert hätte? (Soweit wir wissen, hatte Hannibal nie die Absicht, Rom zu vernichten.)1
Karthago und die hellenistischen Reiche
Karthago wäre die alleinige Großmacht des westlichen Mittelmeerraumes geworden und hätte vielleicht den eigenen Einflussbereich erheblich vergrößert. Im östlichen Mittelmeer wären weder Makedonien, das Seleukidenreich noch die Ptolemaier in Ägypten unter die Herrschaft Roms gefallen. Vielleicht hätte es zwischen diesen Nachfolgestaaten des Alexandereichs weiterhin ein brüchiges Gleichgewicht der Kräfte gegeben, vielleicht hätte sich letztlich aber auch eine dieser Mächte gegen die anderen durchgesetzt, um dann womöglich mit Karthago um die alleinige Vorherrschaft im Mittelmeergebiet zu konkurrieren.
Kein Imperium Romanum und kein Christentum
Was auch immer in diesem Szenario im weiteren Verlauf der Geschichte passiert wäre: Rom hätte sich vermutlich nicht nach Iberien, Gallien, Germanien, Britannien etc. ausgedehnt und hätte die dortigen Völker nicht kulturell beeinflussen können. Dementsprechend hätte sich auch das Christentum wesentlich schwerer getan, zu einer Weltreligion zu werden, und wäre stattdessen wohl eine jüdische Sekte geblieben. Latein hätte nicht die Bedeutung, die dieser Sprache in der realen Welt zukommt und dementsprechend hätte sich wohl kein Französisch, Spanisch, Rumänisch usw. entwickeln können.
Ohne Christentum kein Mittelalter
Das ganze Mittelalter wäre ohne Christentum und Papst ein völlig anderes gewesen bzw. eigentlich hätte es gar kein Mittelalter in unserem Sinne gegeben. Von der Neuzeit wollen wir gar nicht erst anfangen, weil ich denke, dass mein Punkt auch so schon klar genug ist.2
Kontrafaktische Geschichte in der Phantastik und „Rome West“
Aufgrund der spannenden Gedankenspiele, die „alternative Geschichte“ ermöglicht, ist es kein Wunder, dass sich dergleichen auch gelegentlich in der Phantastik findet. Als prominentestes Beispiel fällt mir Philip K. Dicks „The Man in the High Castle“ ein, eine Geschichte, in der Nazi-Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewinnen.
Das heute zu besprechende Comic „Rome West“ (2018) spielt ebenfalls eine solche alternative Geschichte durch, wenn es davon ausgeht, dass im Jahre 323 n.Chr. – also während der Herrschaft Constantins des Großen – wenige römische Kriegsschiffe durch einen Sturm nach Amerika abgetrieben werden und die Besatzung dort ein westliches Rom („Rome West“ bzw. „Roma Occidens“) gründet. Das Script stammt aus den Federn von Justin Giampaoli und Brian Wood, während Andrea Mutti für die künstlerische Gestaltung zuständig war.3
Die Story von „Rome West“: Römer und American Natives
Wie gesagt werden im Jahr 323 n.Chr. ein paar römische Kriegsschiffe durch einen Sturm nach Amerika verschlagen, wo die Besatzung auf Höhe der Großen Seen (Great Lakes) auf einen Stamm American Natives stößt. Nach kurzem Kampf einigen sich beide Parteien darauf, Frieden zu schließen und von nun an gemeinsame Wege zu gehen, wodurch eine römisch-amerikanische Mischkultur entsteht.
Leider erfahren wir nicht, wie sich dieses Zusammenleben genau gestaltet, da die Geschichte nun 500 Jahre in die Zukunft springt, wo wir uns in einer römischen Zivilisation mit amerikanischen Einschlägen wiederfinden. Als Staatsform für das neue Gemeinwesen wurde die Republik gewählt, wobei zwischen Römern und American Natives scheinbar ähnlich unterschieden wird, wie in der realen römischen Republik zwischen Patriziern und Plebejern. Dementsprechend steht nun zur Debatte, ob das Verbot von Ehen zwischen Römern und American Natives aufgehoben werden soll oder nicht.
Letztlich erweist sich die Situation als derart verfahren, dass sie nur durch einen politischen Mord zu lösen ist, der zu einer stärkeren Verschmelzung von Römern und American Natives führt. Da nur römische Männer nach Amerika kamen, hat natürlich ohnehin keiner der Nachfahren rein römisches Blut in den Adern, doch wird großer Wert auf die Familiengeschichte gelegt und drei Familien können die Linie ihrer Vorfahren sogar bis zur Landung in Amerika nachzeichnen.
Die Valerii – Eine römisch-amerikanische Familie
Wo wir gerade bei Familien sind: Das Comic erzählt die Geschichte der amerikanischen Römer grundsätzlich aus der Perspektive von Angehörigen aus der Familie der Valerier, die von Lucan Valerius abstammen, einem Legionär, der im Laufe des Sturms das Kommando über eines der Schiffe übernommen hatte, mit denen die ersten Römer nach Amerika kamen. Dies ist eine schöne Idee, da die Valerier in Rom als eine der ältesten Familien galten und sich der Name bis in die Spätantike hielt. Überhaupt finden sich mit den Fragen nach dem Verhältnis zwischen Tradition und Innovation, der Integration von Nicht-Römern in das Gemeinwesen, politischem Mord etc. einige Themen, die uns aus der realen römischen Geschichte alles andere als unbekannt sind. Nett ist auch, dass ein Römer vermutet, Atlantis entdeckt zu haben, als er die amerikanische Küste erblickt.
Wikinger, Columbus, Azteken und Niederländer
Der nächste Zeitsprung führt uns ins Jahr 990 n.Chr., in dem die Wikinger Amerika erreichen, um sogleich wieder von den Römern vertrieben zu werden, die mittlerweile ein größeres Gebiet an der Nordwestküste Nordamerikas beherrschen. (In der realen Geschichte hat Leif Erikson als erster uns bekannter Europäer um das Jahr 1000 n.Chr. diese Region Amerikas erreicht.) Nicht viel besser ergeht es 1492 n.Chr. Columbus, der in der Karibik auf die Römer trifft. Es folgt im 16. Jh. ein harter Krieg gegen die Azteken, der technologisch schon ein bisschen an den 2. Weltkrieg erinnert, da die Römer die Schwarzpulverwaffen der spanischen Konquistadoren schnell verstanden und weiterentwickelt haben. In späterer Zeit siedeln dann die Niederländer an der amerikanischen Westküste. Die nun erzählten Episoden reichen bis ins 20. Jh. und enden mit den Studentenunruhen um 1968, wobei es sich nun um Spionagegeschichten, Lovestorys etc. handelt.
Folgen für die außeramerikanische Welt
Die Welt, in der „Rome West“ spielt, scheint außerhalb Amerikas zunächst im Wesentlichen der unseren zu entsprechen, wobei sich entscheidende Änderungen erst ab der „Entdeckung“ Amerikas durch Columbus ergeben, da die Spanier nun kein Kolonialreich gründen können etc. Auffällig ist allerdings, dass Ost-Rom – also Konstantinopel – auch in der Neuzeit weiterhin existiert, während es in der realen Geschichte 1453 von den Osmanen erobert wurde, was nicht durch Amerika verändert worden sein kann, da dieses ja erst vier Jahrzehnte später entdeckt wird.
Pferde in Amerika und „What have the Romans ever done for us?“
Ungewöhnlich ist auch, dass eine berittene Cherokee-Legion der Römer bereits wenige Jahre nach Ankunft der Spanier in Amerika in Erscheinung tritt, obwohl es auf diesem Kontinent ja vor der Ankunft der Europäer keine Pferde gab, da diese dort bereits lange ausgestorben waren. Falls die Römer nicht sehr schnell aus spanischen Pferden eine eigene Herde gezüchtet haben, liegt hier eine Abweichung von unserer Geschichte oder aber ein Denkfehler im Script vor. Spannend ist, dass eine Valerius-Nachfahrin in der Neuzeit recht reflektiert darüber nachdenkt, welche positiven wie auch negativen Auswirkungen die Herrschaft der Römer für American Natives hatte. What have the Romans ever done for us?
Fazit
Die Grundidee des Comics ist extrem spannend und regt zu vielerlei Gedankenspielen an. Daher empfinde ich als äußerst schade, dass die Geschichte der amerikanischen Valerier derart episodenhaft und auf ein Heft beschränkt erzählt wird. Ich denke, dass die Geschichte mehr als genug Potenzial für eine längere Comic-Reihe gehabt hätte!
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Anmerkungen
- Im Bündnisvertrag den Hannibal im Jahr 215 v.Chr. mit Philipp V. von Makedonien schloss, wird eindeutig davon ausgegangen, dass Rom nach dem anzustrebenden Sieg der verbündeten Karthager und Makedonen weiterhin existieren würde. Pol. 7,9.
- Kai Brodersen hat einen schönen Sammelband herausgegeben, in dem dieses und einige weitere Beispiele für die Antike durchgespielt werden. Kai Brodersen (Hrsg.): Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte, Darmstadt 2000.
- Außerdem waren Lee Loughridge (Colors), John und Ryane Hill (Lettering) sowie Matthew Taylor (Cover Art) beteiligt.
Sehr geehrter Herr Kleu,
Ihren Artikel habe ich mit Interesse gelesen und auch ich sehe – wie mein verstorbener Mann, der Schriftsteller und Historiker Robert Gordian – einen philosophischen Nutzen bei der Betrachtung alternativer Geschichtsbetrachtung.
Ich möchte Sie deshalb aufmerksam machen auf seine drei Erzählbände WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN (e-books) und ein Interview hierzu mit der Lisa Gerda Henkel-Stiftung:
https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/unterhaltsam_aber_mit_kritischer_distanz?nav_id=4352
Mit freundlichen Grüßen
Ellen Spaniel
Sehr geehrte Frau Spaniel,
vielen Dank für den Hinweis!
Was Ihr Mann im Interview sagt, sehe ich im Wesentlichen ebenso.
Die angesprochenen Bücher werde ich mir gerne ansehen.
Viele Grüße
Michael Kleu