The Atlas Six – Worum geht es?
Der Roman The Atlas Six erzählt uns eine Geschichte, die der Urban Fantasy zuzuordnen ist, also in einer Version unserer heutigen Welt spielt, in der Magie existiert. In dieser Welt ist die Bibliothek von Alexandria nie wirklich untergegangen. Vielmehr wurde ihre Zerstörung nur vorgetäuscht, um die Bibliothek und das in ihr gesammelte Wissen fortan im Geheimen weiterexistieren zu lassen.
Von dieser Prämisse ausgehend könnte sich die Geschichte in vielerlei Richtungen entwickeln, doch macht Autorin Olivie Blake, die mit bürgerlichem Namen Alexene Farol Follmuth heißt, gleich auf dem Cover des Buchs deutlich, wo die Reise hingeht. Denn der Untertitel Knowledge is Carnage, den die deutsche Ausgabe mit Wissen ist tödlich übersetzt, weist auf eine eher düstere Geschichte hin.
Tatsächlich erfahren wir im Laufe der Geschichte, dass die Geheimgesellschaft, die die Geschicke der Bibliothek leitet, alle 10 Jahre die sechs talentiertesten jungen Menschen mit magischer Begabung einlädt, um fünf von ihnen in ihre Gesellschaft aufzunehmen. Während die Mitgliedschaft Macht und Reichtum zur Folge hat, sieht die Zukunft der sechsten Person eher düster aus, da die Bibliothek auf rituelle Menschenopfer angewiesen ist, um ihre Existenz zu sichern …
Die Welt von The Atlas Six
Wie bereits eingangs erwähnt, befinden wir uns in einer Urban-Fantasy-Variante unserer heutigen Welt. Dies zeigt sich zunächst daran, dass es Magie und magiebegabte Menschen gibt, wobei das Buch zwischen medeians und witches (Hexer und Hexen) unterscheidet. Medeians sind Magiebegabte, die spezielle Universitäten besucht haben, an denen ihre besonderen Fähigkeiten geschult wurden.1 Diese akademische Elite steht im Mittelpunkt der größtenteils in einer Bibliothek und Forschungseinrichtung stattfindenden Erzählung, weshalb es sich nicht nur um eine Urban-Fantasy-, sondern gleichzeitig um eine Dark-Academia-Geschichte handelt.
Außerdem existieren Wesen wie Meerjungfrauen und Satyrn, die sich miteinander fortpflanzen und auf diese Weise Mischwesen zeugen können (S.67). Ähnlich wie bei Harry Potter ahnen die „normalen“ Menschen, die passend zum Setting als mortals (Sterbliche) bezeichnet werden, nichts vom magischen Teil ihrer Welt. Daher nutzen die magiebegabten Menschen auch ein eigenes Soziales Netzwerk namens „Lightning“, was schnell an Zeus oder ähnliche Gottheiten denken lässt (S.36).
Die reale Bibliothek von Alexandria
Die Gründung
Nach dem Tod Alexanders des Großen in Babylon 323 v.Chr. sicherte sich dessen General Ptolemaios (367/366-283/282 v.Chr.) die Herrschaft über Ägypten. Zur Legitimierung seiner Macht förderte Ptolemaios auch Kunst und Kultur in beträchtlichem Maße. In diesem Kontext gründete er – oder gegebenenfalls sein Sohn und Nachfolger Ptolemaios II. (308-246 v.Chr.) – die alexandrinische Bibliothek, für die die Ptolemaier im Laufe der Zeit zahlreiche griechische Schriften sammelten und wohl teilweise auch nicht-griechische Werke übersetzen ließen.
Die Magazine der Bibliothek befanden sich bei den königlichen Palästen und gehörten zu einem Museion, also einem Heiligtum der Musen, in dem zahleiche bedeutende Gelehrte ihren Forschungen nachgingen. Unter Ptolemaios II. oder Ptolemaios III. (um 284-222 v.Chr.) kam mit dem Tempel des Serapis (Serapeion) noch ein an anderer Stelle gelegenes Gebäude hinzu.
Die übrigen hellenistischen Herrscher gründeten in der Folge ebenfalls Bibliotheken, von denen jedoch keine derjenigen in Alexandria ebenbürtig war, in der sich je nach Überlieferung etwa 40.000 bis 700.000 Schriftrollen aus sämtlichen literarischen Bereichen befunden haben sollen. Als größte Konkurrentin gilt die Bibliothek in Pergamon.
Das Ende der Bibliothek
In Bezug auf das Ende der Bibliothek stehen verschiedene Ereignisse zur Diskussion. So wird die Zerstörung der Bibliothek zum Beispiel im Rahmen des Alexandrinischen Kriegs (48-47 v.Chr.) Gaius Julius Caesar oder den Arabern im 7. Jh. n.Chr. angelastet. Denkbar wäre, dass zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Gebäudeteile der Bibliothek ihr Ende fanden, da das Serapeion zum Beispiel 391 n.Chr. im Rahmen von Konflikten zwischen Christen und den Anhängern der althergebrachten Gottheiten durch Kaiser Theodosius zerstört wurde.
Jedenfalls übernahmen nach der römischen Eroberung Ägyptens Augustus und die auf ihn folgenden Kaiser die Patronage über die Bibliothek und erweiterten ihre Bestände, sodass sie nicht zur Zeit Caesars gänzlich zerstört worden sein kann.
Die Bibliothek von Alexandria in The Atlas Six
Der Wandel zur Geheimgesellschaft
In The Atlas Six erkennen die Verwalter der Bibliothek zur Zeit Caesars, dass sich Imperien auf drei Säulen stützen: Unterwerfung (subjugation), Verzweiflung (desperation) und Unwissenheit (ignorance). Außerdem sehen sie voraus, dass es im weiteren Verlauf der Weltgeschichte immer wieder neue Versuche geben wird, eine Gewaltherrschaft zu errichten. Daher beschließen die Verwalter, einen Brand vorzutäuschen und die Bibliothek fortan im Geheimen weiterzuführen, um einer tatsächlichen Zerstörung zuvorzukommen (S. 1f.).
In der Folge verlegte die Bibliothek ihren Sitz zunächst nach Rom, danach bis zu den napoleonischen Kriegen nach Prag2 und schließlich nach London, also immer in wichtige Residenzstädte oder Hauptstädte mächtiger Reiche (S.95).
Von ihrer Ausstattung und Gestaltung her scheint die Bibliothek ihren antiken Ursprüngen zumindest halbwegs treu zu bleiben. Jedenfalls ist an einer Stelle in Bezug auf ihren Stil von einer „Greco-Roman farce“ die Rede (S.316). Zuvor heißt es etwas freundlicher, dass die Architektur sicherlich griechisch-römisch geprägt, aber auch von der Romantik beeinflusst sei und letztlich mehr Ähnlichkeit mit der Antikenrezeption des 18. Jahrhunderts als mit der Antike selbst aufweise (S.94).
Dass die Bibliothek seit dem vorgetäuschten Brand im Verborgenen existiert, bezieht sich übrigens nicht allein auf die Normalsterblichen. Auch von den Magiebegabten wissen abgesehen von der wohl eher überschaubaren Anzahl der Mitglieder der Geheimgesellschaft nur sehr wenige von ihrer Existenz.
Historische Einordnung
Der vorgetäuschte Brand zur Zeit Caesars spielt eindeutig auf die Vorwürfe an, dass die Bibliothek im Rahmen des Alexandrinischen Krieges zerstört worden sei. Da die frühen römischen Kaiser die Bibliothek förderten und ausbauten, wäre es in unserer realen Welt verwunderlich, dass Olivie Blake den Eindruck erweckt, dass das Rom zu Zeiten Caesars eine Gefahr für die Bibliothek dargestellte habe. (In späterer Zeit hätte das christliche Kaisertum für eine heidnische Wissensstätte natülich durchaus zu ernsthaften Problemen führen können.)
Da wir uns aber in einer Urban-Fantasy-Variante der damaligen Welt befinden und die Bibliothek auch bedeutende magische Schriften hütet, liegt der Sachverhalt natürlich ein wenig anders. Denn zumindest in unserer zeitlichen Gegenwart gehören ausschließlich Meideians der Geheimgesellschaft um die Bibliothek von Alexandria an, was vermutlich bereits für den Zeitraum des Brandes der Fall gewesen ist. Insofern mögen weltliche Reiche in der Welt von The Atlas Six natürlich wirklich eine Gefahr für die Bibliothek dargestellt haben, da sie ihrerseits wiederum sehr leicht die Bibliothek mit ihren (magischen) Wissensbeständen für gefährlich hätten halten können.
Im direkten Zusammenhang zur vorgetäuschten Zerstörung macht die Autorin übrigens zu Recht deutlich, dass wir fälschlich dazu neigen, den Verlauf der Zeit als eine lineare Erfolgsstory wahrzunehmen, obwohl es in Wahrheit immer wieder zu Aufwärts- und Abwärtsbewegungen sowie zu Kreisläufen komme (S.1).
Die Gegenspieler der Bibliothek: Das Forum
Passend zu der Bedrohung der griechischen Bibliothek von Alexandria durch das Römische Reich tritt im Buch auch eine weitere Geheimgesellschaft auf, die sich „das Forum“ nennt. Aus Sicht des Forums enthält die Bibliothek der Menschheit Wissen vor, das seiner Meinung nach freizugänglich sein sollte (S.142 u. S.272-276).
Aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven kommt es regelmäßig zu bewaffneten und oft auch tödlichen Konflikten zwischen Forum und Bibliothek, wobei das Forum längst nicht den einzigen Feind der Bibliothek darstellt …
Die Bestände der Bibliothek in The Atlas Six
Als wären die Schriften, die sich in der realen Bibliothek befunden haben, nicht schon spannend genug, kommen bei The Atlas Six also noch geheimnisumwobene magische Schriften hinzu. So wird die Japanerin Reina Mori davon überzeugt, eine der sechs neuen Kandidatinnen zu werden, indem ihr Zugriff auf die Schriften Kirkes in Aussicht gestellt wird (S.28-31), bei denen es sich – zumindest unter anderem – um ein Buch mit Zaubersprüchen handelt (S.189).
Auch der Kandidat Nico de Varona verbindet persönliche Interessen mit seiner Zusage. Denn er erhofft sich, in den Beständen der Bibliothek alte Schriften zu finden, die ihm Hintergrundinformationen über gewisse übernatürliche Figuren geben, die erheblichen Einfluss auf das Leben seines besten Freundes haben (S.111).
Des Weiteren werden noch Schriften des Lukrez (S.165), des Demokrit (S.152f. u. S.189), des Anaximander (S.189) und des Leukipp (S.193) explizit erwähnt.
Interessanterweise haben weder die Kandidat*innen noch die Mitglieder der Geheimgesellschaft vollen Zugriff auf sämtliche Schriften der Bibliothek. Vielmehr scheint diese selbst zu entscheiden, wer welche Texte einsehen darf und wer nicht, wobei der Eindruck einer im wahrsten Sinne des Wortes „lebendigen“ Bibliothek erweckt wird (S.381f. u. 391f.).
Reina Mori
Die magischen Fähigkeiten der eben angesprochenen Kandidatin Reina weisen eine enge Verbindung zur Natur auf, weshalb andere Magiebegabte sie immer wieder fälschlich als Naturalistin („naturalist“) einstufen (S.26). Tatsächlich ist Reina aber bewusst, dass sie nicht so recht in diese Kategorie passt, was dazu führt, dass sie nach Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten wie den ihren sucht und dabei besonders in der Mythologie fündig wird.
In erster Linie scheinen ihr es dabei die Göttinnen Persephone und Kirke angetan zu haben, wobei Olivie Blake zurecht das Problem anspricht, dass Göttinnen durchaus gerne mal als Hexen wahrgenommen werden, was sicherlich besonders für Kirke gilt (S.26).3 Da erscheint es nur passend, dass Reinas Großmutter, weil sie die magischen Zusammenhänge nicht erkennt, bei Reinas Geburt ein Wunder oder Vorzeichen wahrgenommen haben will, wie wir es von zahlreichen Held*innen der Antike kennen (S.25).
Die Antike und weitere frühere Epochen sind Reinas besondere Leidenschaft. So sagt sie zu einer Mitkandidatin: „I specialized in ancient magics. Classics.“ (S.104)
Die Namen der Charaktere
Der großgewachsene Archivar und Verwalter der Bibliothek heißt Atlas Blakely, was ohne Zweifel auf den Titanen Atlas anspielt (S.21, 37 u. 98). Eine weitere Kandidatin heißt Elisabeth „Libby“ Rhodes, trägt also die englische Bezeichnung für die Insel Rhodos als Nachnamen. Beim Kandidat Tristan Caine scheint der Nachname ebenfalls nicht zufällig dem Kain der Bibel zu ähneln (englisch: Cain), da seine Verlobte auf den Namen Eden hört (S.34). Vielleicht versteckt sich eine weitere Anspielung auf den biblischen Kain in dem Umstand, dass in Bezug auf Tristan Cain von einem Altar der Sünden die Rede ist (S. 38).
Die in Teheran geborene Telepathin Parisa Kamali ist aufgrund ihrer Schönheit und ihrer magischen Fähigkeiten eine Meisterin der Verführung. Womöglich spielt ihr Name auf den trojanischen Prinzen Paris an, in den sich mit Helena die schönste Frau der griechischen Welt verliebte, was bekanntlich zum Trojanischen Krieg führte. Und tatsächlich sagt der Kandidat Callum zu Parisa, dass sie nicht einfach auf gewöhnliche Weise schön sei, sondern ihre Schönheit Männer in den Wahnsinn treibe und zu Kriegen führen könne (S.311). Deutlicher kann Parisa kaum noch mit Hellena verglichen werden.
In einem Gespräch mit zwei Mitkandidat*innen bezeichnet sie sich in Abgrenzung zu einer Escort-Dame als „an exceptionally talented philanderess“, also eine Person, die gerne flirtet und oft unverbindlichen Sex mit wechselnden Partner*innen hat.4
Der Nachname des Kandidaten Callum Nova könnte sich vom lateinischen nova ableiten (Neues, Neuigkeiten). Sicher ist hingegen, dass er zwar aus Südafrika stammt, seine Familie aber Beziehungen zum griechischen Königshaus pflegte, weshalb Callum auch in Athen studiert hat und seine Ferien in Griechenland verbringt (S.94 u. 300).
Der allgemeine Sprachgebrauch und weitere Anspielungen
Immer wieder finden sich im Text kleinere Anspielungen auf die Antike. So finden etwa Midas (S.14), herkulische Anstrengungen (S.16), patrizisches Verhalten (S.19), ein Olivenzweig als Friedenssymbol (S.110), Kassandra (S.330 u. 332), die Iden des März (indirekt S.255 und direkt S.379 u. 433), der Minotauros (S.392), Gladiatoren (S. 431), Sisyphos (S.436), Automata (S.467), Babel (S.504) und der Fall Roms (S.505) Erwähnung.
Auf S.101 erfolgen Gedanken über den Umstand, dass zu viel Wissen dazu führen kann, dass die betreffende Person erst wirklich realisiert, wie wenig sie defacto weiß, bei denen es sich um eine Anspielung auf das berühmte „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ des Sokrates handeln könnte.
Mein Eindruck von The Atlas Six
Obwohl Olivie Blake wie oben gezeigt mancherlei Bezüge zur Antike einbaut, gehen viele Anspielungen und Bezüge nicht sonderlich in die Tiefe und lassen sich bei guter Allgemeinbildung von den Leser*innen leicht entschlüsseln.
Selbst die Bibliothek von Alexandria, um die sich The Atlas Six ja eigentlich dreht, scheint als Hintergrundszenario beliebig austauschbar, was vielleicht damit zusammenhängen mag, dass Olivie Blake in der Danksagung ihres Buches berichtet, dass die Charaktere der Erzählung ursprünglich in einer gänzlich anderen Welt angesiedelt waren (S.508).
In anderen Fällen wie etwa den Schriften von Lukrez, Anaximander, Leukipp und Demokrit scheint eine etwas tiefergehende Auseinandersetzung durchaus denkbar.
Fazit
Auch wenn wir auf diesem Blog bereits wesentlich tiefer in die Materie eindringende Antikenrezeptionen besprochen haben, ist The Atlas Six durchaus erfrischend, zumal es mir richtig gut gefällt, mal wieder die Bibliothek von Alexandria im Zentrum einer phantastischen Erzählung zu sehen.5
Jedenfalls bin ich sehr gespannt, wie die Geschichte um die sechs Kandidaten in den Fortsetzungen The Atlas Paradox und The Atlas Complex weitergehen mag. Und allem Anschein nach ist auch eine Amazon-Serie zu The Atlas Six in Planung.
Literatur
Glock, Andreas: Art. „Museion“, in: Der Neue Pauly 8 (2000), 507-511.
Nielsen, Inge: Art. „Bibliothek“, in Der Neue Pauly 2 (1997), 634-639.
Vössing, Konrat: Art. „Bibliothek. Griechenland, Rom, christliche Bibliotheken“, in Der Neue Pauly 2 (1997), 640-647.
- Die Bibliothek von Alexandria in „The Atlas Six“ - 28. Oktober 2024
- [Fantastische Antike – Der Podcast] Progressive Phantastik - 21. September 2024
- Walhalla – Die nordische Mythologie im Comic - 31. Juli 2024
Anmerkungen
- Olivie Blake hat nach eigener Aussage einfach das lateinische Wort für Magie bzw. Zauber genommen (medeis) und meideians daraus gebastelt.
- Prag war eine bedeutende Residenzstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und verfügte über eine einflussreiche Universität.
- Während Kirke im weiteren Verlauf mehrfach namentlich angesprochen wird, müssen die Leser*innen Persephone selbst erschließen, wenn es heißt „Six months in the underworld.“ (S.26) Erst auf S.277 vergleicht sich Reina ausdrücklich mit Persephone.
- Der Begriff leitet sich vom Philander der griechischen Mythologie ab, dessen Name wörtlich übersetzt „Männer-Liebhaber“ bedeutet. Im 18. Jahrhundert griffen laut Wiktionary verschiedene Erzählungen den Namen für Charaktere mit amourösen Absichten auf.
- Im Darwin Pod-Podcast habe ich mit Sabine und Patrick die Folge Treasure of the Mind aus der Serie SeaQuest DSV besprochen, in der es ebenfalls um die alexandrinische Bibliothek geht.
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