J. Weiner/B.E. Stevens/B.M. Rogers: Frankenstein and its Classics (Buchbesprechung)

J. Weiner/B.E. Stevens/B.M. Rogers (Hgg.): „Frankenstein and its Classics. The Modern Prometheus from Antiquity to Science Fiction“, London/New York 2018.

In der Einleitung zu ihrem Sammelband „Classical Traditions in Science Fiction“ zeigten die beiden Herausgeber Benjamin Eldon Stevens und Brett M. Rogers die ebenso tiefgreifende wie vielschichtige Antikenrezeption in Mary Shelleys Frankenstein; Or, The Modern Prometheus auf, während Jesse Weiner für denselben Band einen Beitrag zum Thema Lucretius, Lucan, and Mary Shelley’s Frankenstein beisteuerte.

Anlässlich des 200. Jahrestags der Erstveröffentlichung dieses Frühwerks der Science Fiction-Literatur im Jahr 2018 haben sich Stevens, Rogers und Weiner erneut zusammengetan, um der Antikenrezeption in Frankenstein einen ganzen Sammelband zu widmen, den ich im Folgenden besprechen möchte.

Einleitung

In ihrer Einleitung (S. 1-22) kommen die drei Herausgeber zunächst auf die Entstehungsgeschichte von Mary Shelleys Frankenstein zu sprechen, bevor sie sich auf die Antikenrezeption des Buches konzentrieren.

Der moderne Prometheus

In diesem Kontext liegt der Fokus zu Beginn auf dem Untertitel the Modern Prometheus und den Bezügen zwischen dem Titanen Prometheus und der Handlung von Mary Shelleys Erzählung. In beiden Fällen geht es – grob zusammengefasst – um neue Technologien und Strafen, die diejenigen erleiden müssen, die diese Technologien ermöglichen: Prometheus in der griechischen Mythologie, Victor Frankenstein im Roman.

Antike Autoren in „Frankenstein“

Als von Shelley aufgegriffene antike Autoren werden Lucretius, Ovid, Seneca, Lucan, Plutarch und Apuleius aufgeführt. Auf einer allgemeineren Ebene wird darauf verwiesen, dass die im Roman thematisierte Monstrosität über tiefe Wurzeln in der antiken Literatur verfügt, in der diverse Formen von Monstern dazu dienten, durch Kontraste zu definieren, was eigentlich das Wesen der Menschen ausmacht.

Mary Shelley, ihre Leserschaft und die antike Welt

Interessant ist in diesem Fall, dass Mary Shelley, ihr Freundeskreis sowie auch ein Großteil ihrer zeitgenössischen Leserschaft der Antike ein gewisses Interesse entgegenbrachten und diesbezüglich über eine gute Bildung verfügten. Man wird also davon ausgehen können, dass ein nicht geringer Prozentsatz der damaligen Leserschaft die Bezüge zur klassischen Antike durchaus verstanden haben dürfte.

Plutarch

Besonderes Augenmerk legen die Herausgeber in ihrer Einleitung auf das Verhältnis zwischen Shelleys Buch und den Doppelbiographien des Plutarch, wobei die Vermutung aufgestellt wird, dass die Doppelbiographien nicht nur dazu dienen, um Frankensteins Geschöpf innerhalb der Erzählung Vorstellungen von politischem Leben und moralischer Tugenden zu vermitteln, sondern auch als Vorlage der narrativen Struktur des Romans dienen könnten.

John Scalzis Ghostbrigades

Daran schließen spannende Gedanken zu John Scalzis Ghostbrigades (2006) an, die paradigmatisch aufzeigen, wie Science Fiction-Werke, die einen direkten Bezug zu Mary Shellys Frankenstein aufweisen, auch ihrerseits wiederum die Antike rezipieren können.

Antike Fragen brandaktuell

Wie Mary Shelley antikes Material und Fragestellungen aufgreift, um damit auf aktuelle Fragen ihrer eigenen Zeit einzugehen, können heutige zeitgenössische Werke – so die Herausgeber – durch die Traditionslinien, die sie mit Frankenstein verbinden, ebenfalls auf die Antike zurückgreifen, um die Probleme ihrer eigenen Zeit zu erörtern, wodurch Shelleys Roman zu einem Bindeglied zwischen moderner Science Fiction und antiker Welt wird.

Promethische Hitze

Die auf die vielversprechende Einleitung folgenden Beiträge des Sammelbands werden in zwei Gruppen präsentiert, deren erste die Überschrift Promethean Heat trägt und Themen beinhaltet, die sich auf die Zeit vor der Niederschrift von Shelleys Frankenstein konzentrieren, wobei die Anordnung chronologisch erfolgt.

Patchwork Paratexts and Monstrous Metapoetics: „After tea M. reads Ovid“

Den Anfang macht Genevieve Liveley, die nach ihrem schönen Hinweis darauf, dass Shelleys Buch wie Frankensteins Monster aus vielerlei unterschiedlichen Vorlagen und Genres zusammengefügt wurde, Ovids Einfluss auf das Schaffen der damals noch sehr jungen Autorin untersucht. Dabei stellt Liveley fest, dass Shelley Ovid teilweise in Latein teilweise in Übersetzung gelesen hat, wobei es ihr gelingt wahrscheinlich zu machen, dass George Sandys‘ Übersetzung und Kommentierung der Metamorphosen Ovids aus dem Jahr 1632 (Ouid’s Metamorphosis Englished) einen großen Einfluss auf Shelley und ihren Roman Frankenstein gehabt hat.

Prometheus and Dr. Darwin’s Vermicelli: Another Stir to the Frankenstein Broth

Weiter geht es mit Martin Priestman, der zunächst Überlegungen anstellt, an welcher Darstellung des Prometheus in den antiken Quellen sich Mary Shelley bei ihrem Roman orientiert haben könnte, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass sowohl Hesiod, Aischylos als auch Ovid diesbezüglich ihre Spuren hinterlassen haben. Darüber hinaus hält Priestman es für möglich, dass Shelley über Erasmus Darwin antike Motive aufgriff, die hinsichtlich der im Roman relativ unklar gelassenen konkreten Form der Schöpfung eher für ein organisches Wachstum der Kreatur Frankensteins als für eine wiederbelebte Kombination einzelner Körperteile spräche.

The Politics of Revification in Lucan’s Bellum Civile and Mary Shelley’s Frankenstein

Kommen wir nun zu Andrew M. McClellan, der deutliche Parallelen zwischen Shelleys Frankenstein und einer Stelle aus Lucans Bellum civile (6.413-830) hervorhebt, in der die thessalische Hexe Erichtho kurz vor der Schlacht bei Pharsalos (48 v.Chr.) einen Verstorbenen wieder zum Leben erweckt, um ihn die Zukunft vorhersagen zu lassen. Wie Lucan den wiederbelebten Toten wohl als Metapher für die römische Republik verwendete, die nach der Machtübernahme des Augustus nur noch offiziell weiterexistierte, sieht McClellan in Frankensteins Monster Hinweise auf die französischen Republik zur napoleonischen Zeit, wobei es offen bleiben muss, ob sich Shelley diesen Bezug selbst ausgedacht hat, oder ob sie ihn aus den zeitgenössischen Diskussionen und Berichterstattungen übernommen hat.

Romantic Prometheis and the Molding of Frankenstein

Im nächsten Kapitel stellt Suzanne L. Barnett die verschiedenen Prometheus-Bilder vor, die in der Romantik im Allgemeinen und Mary Shelleys Kreisen im Besonderen kursierten. So lernen wir hier z.B. die Prometheis von Percy Shelley, Johann Wolfgang von Goethe, John Frank Newton oder William Godwin kennen. Dabei wird deutlich, dass zur damaligen Zeit kein einheitliches Bild des Titanen kursierte, was sich dann wiederum in Mary Shelleys Prometheus-Rezeption widerspiegelt.

Why the ‚Year without a Summer‘?

In diesem Beitrag erklärt der Biologe David A. Gapp, wie ein Vulkanausbruch in Indonesien 1816 zu einem besonders kalten und verregneten Sommer führte, was in mancherlei Hinsicht Auswirkungen auf die Entstehung von Mary Shelleys Frankenstein hatte. Da dieses Kapitel keinen Bezug zur Antike aufweist, werde ich an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen.

The Sublime Monster: Frankenstein, or the Modern Pandora

Da Frankenstein als moderner Prometheus inszeniert wird, kommt Matthew Gumpert auf die großartige Idee, dessen Kreatur als Pandora aufzufassen. Dementsprechend fasst Gumpert das Monster nicht als ein gescheitertes Experiment auf, sondern vielmehr als eines, dessen Ergebnis der Schöpfer schlichtweg nicht ertragen kann, weil er es statt als gelungenes künstliches Ebenbild eines Menschen als einen äußerlich monströs missratenen echten Menschen versteht: „For Victor is not a scientist but an artist, and Frankenstein not a parable on science gone wrong but art gone (too) right.“ (S. 112).

Die schreckliche Nachkommenschaft

Die zweite Gruppe der Beiträge läuft unter der Überschrift „Hideous Progeny“ und beschäftigt sich mit der spannenden Frage, inwiefern Mary Shelleys Frankenstein durch seine ungeheure Prägewirkung auch die Rezeption der Antike in späteren Werken mitbeeinflusste.

Cupid and Psyche in Frankenstein: Mary Shelley’s Apuleian Science Fiction?

Benjamin Eldon Stevens zeigt zunächst auf, welche Belege wir dafür haben, dass Mary Shelley den antiken Schriftsteller, Redner und Philosophen Apuleius und dessen Darstellung des Cupid (Amor) und Psyche-Stoffes kannte. Im nächsten Schritt stellt er vier Szenen aus Frankenstein vor, in denen er Abwandlungen der apuleischen Erzählung von Cupid und Psyche zu erkennen glaubt. Daran schließt sich eine Betrachtung der Amor und Psyche-Rezeption in Mary Shelleys The Last Man aus dem Jahr 1826 an.

The Pale Student of Unhallowed Arts: Frankenstein, Aristotle, and the Wisdom of Lucretius

Carl A. Rubino beschäftigt sich mit verschiedenen antiken Philosophien, die sich in Mary Shelleys Frankenstein in Bezug auf ethische Fragen widerspiegeln, wobei auch der Assistent des klassischen „mad scientist“ thematisiert wird.

Timothy Leary and the Psychodynamics of Stealing Fire

In einer äußerst spannenden Untersuchung zeigt Neşe Devenot, wie der sich für den Einsatz bewußtseinserweiternder Drogen wie LSD einsetzende Psychologe Timothy Leary sich selbst in seiner Außendarstellung als modernen Prometheus inszenierte und dabei wiederholt Kritik an Victor Frankenstein bzw. dem in Frankenstein vermittelten Bild von Wissenschaft übte.

Frankenfilm: Classical Monstrosity in Bill Morrison’s Spark of Being

2010 veröffentlichte Bill Morrison einen Frankenstein-Film, den er aus älteren Filmmaterialien unterschiedlicher Herkunft zusammengeschnitten hat. Jesse Weiner vergleicht das so entstandene Produkt mit der ähnlich zusammengesetzten Kreatur Frankensteins. Hinzu kommen Überlegungen zum antiken Verständnis von Monstern und Monstrosität.

Alex Garland’s Ex Machina or The Modern Epimetheus

Emma Hammond bespricht vor dem Hintergrund von Mary Shelleys Frankenstein und den antiken Erzählungen über Pandora Alex Garlands Ex Machina (2015), wobei sie sehr spannende Fragen zu künstlicher Intelligenz und Geschlechterrollen aufwirft. In diesem Kontext arbeitet sie überzeugend heraus, dass Ava, der Android bzw. Gynoid aus Ex Machina als künstlich geschaffene ‚femme fatale‘ in einer direkten Traditionslinie mit Pandora steht.1

The Postmodern Prometheus and Posthuman Reproductions in Science Fiction

Brett M. Rogers stellt die These auf, dass sich Mary Shelleys Frankenstein grundlegend auf die moderne Prometheus-Rezeption auswirkte. Um dies zu verdeutlichen, betrachtet er im Folgenden Ridley Scotts Prometheus (2012) und das hier bereits besprochene Comic Ody-C, womit wir vom antiken Prometheus über Shelleys „modern Prometheus“ zum „postmodern“ oder „posthuman“ (S. 211) Prometheus angelangt wären.

Other Modern Prometheis: Suggestions for Further Reading and Viewing

Um eine sehr schöne Idee handelt es sich beim letzten Beitrag, in dem Samuel Cooper Empfehlungen für weitere Bücher, Kurzgeschichten, Bühnenstücke und Filme aus den Jahren von 1823 bis 2016 ausspricht, die in einem Zusammenhang mit Mary Shelleys Frankenstein stehen und deren Auswertung ihm hinsichtlich der Antikenrezeption lohnenswert erscheinen.

Bibliographie und Index

Das Buch endet schließlich mit einer Bibliographie (S. 238-265) und einem nützlichen Index (S. 267-273).

Fazit

Den im hier vorgestellten Band präsentierten Untersuchungen gelingt es sehr gut, die vielschichtige Antikenrezeption in Mary Shelleys Frankenstein aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten. Dabei hängt es von den persönlichen Interessen der Leserschaft ab, welche Artikel besonders ergiebig sind; spannend sind sie sicherlich alle.

David A. Gapps Beitrag Why the ‚Year without a Summer‘? passt eigentlich nicht in den Sammelband, weil er keinen Bezug zur Antike aufweist. Nichtsdestotrotz ist der Artikel sehr interessant und wäre vielleicht besser als Exkurs hinten angehängt worden.

Fans von Mary Shelleys Frankenstein, die sich gleichzeitig für die Antike interessieren, sei dieses Buch sehr empfohlen!

Frankenstein
Photo: Michael Kleu

Michael Kleu

Anmerkungen

  1. Emma Hammond bezeichnet Ava, das künstliche Wesen aus Ex Machina durchgehend als Cyborg, was streng genommen nicht ganz zutreffend ist, da es sich bei Ava um einen weiblichen Androiden, also einen Gynoiden handelt. Zu den Unterschieden zwischen Robotern, Cyborgs und Androiden vgl. meine Überlegungen hier.

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