Griechische Mythologie im Weltraum: Chrysaor

Auch wenn die Science Fiction bekanntlich immer wieder gerne auf die Antike zurückgreift, stehen in den Erzählungen dieses Genres in der Regel eher die Römer im Vordergrund. Umso mehr hat es mich gefreut, dass James A. Sullivan in seinem 2016 veröffentlichten Roman Chrysaor die griechische Mythologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

ACHTUNG: Die folgende Untersuchung spricht Details der Romanhandlung an, deren Vorabkenntnis das Lesevergnügen schmälern könnte.

Allgemeine Antikenrezeption in Chrysaor

Selbst wenn Leserinnen und Leser nicht sofort den Titel des Buches in Verbindung mit der griechischen Mythologie bringen – so ging es mir -, wird doch recht schnell ein gewisser Bezug zur griechischen Antike deutlich. So wird auf einem Planeten mit Drachmen bezahlt, während an anderer Stelle vom Amt des Archonten die Rede ist, das fast automatisch an die attische Demokratie des 5. und 4. Jh. v.Chr. denken lässt. Auch ist auffällig, dass Planeten im Vordergrund stehen, die mit Namen aus der griechischen Mythologie versehen sind, während die Planeten in unserem Sonnensystem ja alle die lateinischen Bezeichnungen tragen. Hinzu kommen dann noch Raumschiffe, die Mykenai, Athenai oder Katharsis heißen. Und mit dem Kerberos 15 haben wir sogar einen Schiffstyp vorliegen, der statt wie der Höllenhund über drei Köpfe über 3 mal 5 Schutzschilde verfügt.

Tiefgreifende Antikenrezeption: Die drei Schwestern

James A. Sullivan legt Chrysaor die Idee zugrunde, dass sich die Ereignisse um die drei Gorgonenschwestern zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Welten immer wieder in den unterschiedlichsten Konstellationen als zyklisch wiederkehrende Konflikte wiederholen. Dazu zählt, dass immer wieder Personen aufeinandertreffen, die Perseus, Andromache, Chrysaor sowie Medusa und ihren Schwestern Stheno und Euryale entsprechen.

Der Mythos um die Gorgonen

Da es nun etwas komplizierter wird, sollten wir zunächst kurz den Mythos in seinen Grundzügen zusammenfassen: Medusa, deren schreckliches Äußeres alle zu Stein erstarren lassen, die ihr ins Antlitz schauen, ist anders als ihre beiden Schwestern sterblich und wird vom Helden Perseus enthauptet, woraufhin Chrysaor und das geflügelte Pferd Pegasos ihrem Hals entspringen. In der Folge verwendet Perseus das Haupt der Medusa, um die Prinzessin Andromeda vor dem Meeresungeheuer Keto zu retten, wobei Keto pikanterweise die Mutter der drei Gorgonenschwestern ist.

Die Entsprechung des Mythos in Chrysaor

Im Roman folgen wir der Erzählung an der Seite des Protagonisten Chris Mesaidon, der gemeinsam mit einer künstlichen Intelligenz namens Chrysaor eben jenem Sohn der Medusa entspricht. (Gleichzeitig trägt auch ein wichtiger Planet der Geschichte diesen Namen.) Diese Medusa heißt in der Welt des Romans Sema Pondaia und führte vor ihrem Tod – jetzt ratet mal, wie sie gestorben ist – mit ihren Schwestern Senthea (Stheno) und Ryala (Euryale) den Widerstand der Ketoniden gegen die Uranosier an.

Der Begriff Ketoniden bezieht sich auf den Heimatplaneten, spielt aber natürlich darauf an, dass die Gorgonen im Mythos Töchter der Keto sind. So heißt die Mutter der drei Schwestern in Chrysaor Kate. Auf Seiten der Uranosier tritt besonders der Antagonist Meljan Solsee (Perseus) in Erscheinung, dessen Frau Darae (Andromeda) von ihrem Gatten zutiefst verletzt, ins Lager der Rebellen wechselt und schließlich eine Beziehung mit Chris eingeht. Pegasos tritt nur als künstliche Intelligenz in Erscheinung, die am Rande Erwähnung findet.

Dabei sind die Gorgonen aber nur eine Verkörperung der oben angesprochenen drei Schwestern, die in anderen Zeiten und Welten auch als Moiren, Parzen, Graien und Grazien in Erscheinung treten können. Die Moiren sind die drei Schicksalsgöttinnen der griechischen Mythologie, während die Parzen ihre römische Entsprechung darstellen. Die Graien sind drei Schwestern der Gorgonen, die bereits als alte Frauen geboren wurden und sich ein Auge und einen Zahn teilten mussten. Die römischen Grazien repräsentieren Anmut, Schönheit und Festesfreude und werden in der griechischen Mythologie als Chariten bezeichnet. Neben Figuren aus anderen Mythologien (z.B. die Nornen) werden schließlich noch die Musen genannt, bei denen es sich aber in der Mythologie um 9 Schwestern handelt. Jedenfalls betrachten sich die drei Schwestern in Chrysaor als Wächterinnen des Schicksals.

Eine erfundene griechische Seherin?

James A. Sullivan kommt noch auf die Seherin Njalda zu sprechen, die ins Griechenland des Jahres 1304 v.Chr. verortet und nach der im Roman eine untergegangene Hochkultur benannt ist. Außer Kassandra und Manto fallen mir keine griechischen Seherinnen ein, sodass dieser Charakter womöglich erfunden ist. [Auf Nachfrage bestätigte James A. Sullivan diese Vermutung, auch wenn er sich dabei nicht mehr zu 100% sicher ist.]

Gelungene Neuinterpretation

Wie Euch sicherlich schon aufgefallen sein dürfte, hat James A. Sullivan die mythische Vorlage nicht 1:1 übernommen, sondern auf spannende Art und Weise neu- bzw. uminterpretiert. So ist „Perseus“ in Chrysaor das Gegenteil eines strahlenden Helden, während die „Gorgonen“ die Sympathieträgerinnen sind und dementsprechend natürlich am Ende triumphieren.

Somit zeigt uns der Roman einerseits, dass es nicht immer Römer, sondern gerne auch einmal Griechen im Weltraum sein dürfen, während andererseits der Umstand der Uminterpretation der Medusa-Geschichte regelrecht erfrischend ist. Und da ich durch den Roman auch erstmals bewusst von Chrysaor erfahren habe, habe ich bei der Lektüre ganz nebenbei auch noch etwas Neues über die griechische Mythologie gelernt.

Chrysaor
Photo: Michael Kleu
Michael Kleu

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