Veröffentlicht: 27. Dezember 2020 – Letzte Aktualisierung: 21. September 2022
Einführung
Wie schon im Beitrag zu Käpt’n Blaubär, geht es auch hier nochmal um Atlantis. Warum? Weil das Thema ganz offensichtlich auch noch heutzutage die Menschheit fasziniert. Das zeigt sich gerade erst wieder an dem 2018 erschienenen Videospiel Assassin’s Creed Odyssey. Ubisoft lässt hier das Historikerherz einfach höherschlagen. Und dabei geht es nicht nur darum, dass auf der Spielmap die gängigen Orte Griechenlands, wie die Peloponnes, Kreta oder Athen abgebildet sind.
Sieht man mal genauer hin, muss man erkennen, dass im Rahmen der „ludischen Reduktion“ 1 an Detailgenauigkeit hinsichtlich der Geografie eingespart wurde. Aber wer hat schon Lust mit dem Charakter zweieinhalb Stunden durch felsige und steppenähnliche Gefilde zu laufen, um von Athen nach Sparta zu gelangen? Ganz klar: Hier kann gerne im Sinne der Spieldynamik auf exakt gemessene Entfernungen verzichtet werden.
Meine ersten Eindrücke von Assassin’s Creed Odyssey
Das Erste, was ich in dem Spiel unternehmen wollte, war auf die Akropolis von Athen zu klettern. Das dauerte zwar ein bisschen (nicht zuletzt, weil ich mich durch zahlreiche Nebenquests hatte ablenken lassen 2), aber schließlich war es dann auch so weit. Und ja – so pathetisch das jetzt auch klingt – es war schlichtweg ergreifend da oben auf dem Hügel. Ganz Hellas überblickend. Einen annähernden Eindruck zu bekommen, wie es sich vor Ewigkeiten angefühlt haben muss, hier zu stehen, umringt von (bunten) Prachtbauten und in die Ferne zu blicken.
Ein virtueller Einblick in vergangene Zeiten
Jahrelang versucht man sich im Geschichtsstudium (und nicht nur hier) eine Welt auszumalen, wie sie vor gut 2500 Jahren existiert haben könnte. Und Ubisoft hat es einfach umgesetzt. Sicher, diese Statue stand im Original nicht hier und jenes Haus kann es dort auch nicht gegeben haben. Aber es hinterlässt Eindruck und man kann sich der griechisch-antiken Welt so nah fühlen, wie es kaum ein Buch beschreiben kann. Visualisierung steht bei uns Menschen eben noch immer im Vordergrund.
Was wir sehen, begreifen wir schneller und lässt sich besser abspeichern. Für Geschichtswissenschaftler oder Geschichtswissenschaftlerinnen, die sich mir der Vermittlung historischer Inhalte auseinandersetzen, schafft Assassin’s Creed Odyssey eine einmalige Möglichkeit, den mit der Geschichte weniger vertrauten „Otto-Normal-Spieler“ in eine weit zurückliegende Antike eintauchen zu lassen, wie es Layla Hassan, Mitglied der Assassinen-Bruderschaft, durch Kassandras oder Alexios‘ Animus auch möglich ist.
Möglichkeiten der Geschichtsvermittlung
Wer würde nicht selbst gerne gegen den Minotaurus kämpfen, der Gorgone das Haupt abschlagen und von Leonidas persönlich hören, wie er in der Schlacht an den Thermopylen kämpfte? Im besten Fall wird hier schon bei Jugendlichen (FSK 16) Begeisterung und Neugierde für historische Zusammenhänge geweckt, nicht nur im mythologischen Bereich.
Natürlich handelt es sich hier um ein Spiel, das auch auf hohe Verkaufszahlen und Erfolg in der Community abzielt und eine flüssige Spielbarkeit ermöglichen muss, doch sollte diese Variante der Geschichtsvermittlung, nur weil sie neu ist, nicht gleich abgelehnt oder gar verurteilt werden. Die Quellen der Geschichte oder der Geschichtsrezeption verändern sich durchweg, von der mündlichen Tradition über den Buchdruck bis hin zum Video(-spiel).
+++ Achtung Spoiler +++
Was kommt eigentlich nach der Unterwelt?
Diejenigen, denen die riesige Map Griechenlands von Makedonien bis Kreta und von Elis bis Samos nicht ausreicht, können sich ihre Zeit in einer der DLCs (Erweiterungen) vertreiben. Man kann Persephone im von Hades für sie geschaffenen und nach ihren Wünschen gestalteten Elysion besuchen, gegen sie rebellieren, um anschließend zu Hades in die Unterwelt geworfen zu werfen. Dort hat man anschließend keine andere Wahl, als den tollwütigen Kerberos zu töten, muss in Konsequenz dann aber für Ersatz sorgen. Ist auch dies geschafft, darf der Charakter nach Atlantis zu Poseidon. Dieser trat bereits im Hades auf, wo er mit seinem Bruder, dem Unterweltgott Hades, Spielchen getrieben und Wetten über Kassandras /Alexios‘ Taten (à la der Prinz aus Zamunda) abgeschlossen zu haben scheint.
Platons Atlantis in Assassin’s Creed Odyssey
Wie man in einem anderen Blogbeitrag über die mythische Stadt Atlantis in Walter Moers‘ Roman „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ bereits lesen kann, beruhen unsere frühesten Berichte über diesen mythischen Ort auf Platons Timaios- und Kritias-Dialogen. Demnach lag sie im Atlantik und war in Poseidons Besitz, bis dieser sie seinem Sohn Atlas und dessen neun Geschwistern übergab. Nun steht die Frage nach der Ähnlichkeit des Assassin’s Creed-Atlantis mit dem Original aus Platons Dialogen im Raum. Wie sehr hielten sich die Macher an die antiken Vorgaben?
Eine Stadt im Meer?
Die Lokalisation der Stadt, umringt von weiter See, lässt sich bei Assassin’s Creed nicht präzise nachvollziehen, da man nicht mit dem Schiff dorthin fahren kann, sondern durch ein Weltenportal nach Atlantis gelangt. An sich müsste die Insel mit dem großen Berg im Zentrum also von Wasser umgeben sein, doch besteht der Rand der spielbaren Karte aus noch durchaus begehbarer Felsenlandschaft. Erst der Übersichtkarte im Menü nach zu urteilen scheint es sich nur noch um ein paar aus dem Wasser ragende Felsen zu handeln, weiter hinten schließt sich dann anscheinend ein Meer an.
Unsere Aufgabe in Atlantis
Der zentrale Berg hingegen ist von jedem Ort der „Insel“ zu erblicken, auf ihm steht der am höchsten von allen atlantidischen Gebäuden in den Himmel ragende Palast des Poseidon, wo das Gameplay seinen Lauf nimmt und Kassandra/Alexios von Poseidon zur/zum Dikastes, ein aus dem Griechischen abgeleiteter Begriff für das Richteramt, ernannt wird. In den Hauptquests erhält man nun den Auftrag, die Rüstung der Dikastes zu sammeln, die sich in den Doma (altgr. Gemächer) der anderen Herrscher befindet.
Es stellt sich heraus, dass es sich bei Letzteren um die teils korrupten Brüder des Atlas handelt, welche der/dem Dikastes die Macht durch die Rüstung nicht einfach zugestehen wollen. Bei ihr/ihm handelte es sich schließlich um einen Hybrid und damit einer Zwischenstufe zwischen ihnen und den Menschen. Sie selbst sind sogenannte „Isu“, eine noch vor den Göttern lebende hochentwickelte Spezies, von denen sich einige über die Menschen positionieren; ein in der Geschichte immer wieder auftauchender Topos.3
Die Struktur von Atlantis
Doch zurück zum Aufbau von Atlantis. Die Brüder des Atlas haben ihre Doma in unterschiedlichen Gebieten der Stadt, wodurch sie quasi in verschiedene Herrschaftsgebiete aufgeteilt wird. Und hier fruchtet die enge Zusammenarbeit von Spieleentwicklern und zur Beratung hinzugezogenen Historikern. Der Herrschaftsaufbau entspricht fast dem uns von Platon mitgeteiltem originalen Pendant. Nach Platon setzte Poseidon seinen Sohn Atlas als König ein, seine Brüder sollten unter ihm als Archonten über andere Gebiete von Atlantis regieren.
Eine kleine Abweichung gibt es jedoch: Laut Platon übte Poseidon keine Herrschaftsfunktion in Atlantis aus, im Videospiel nimmt er hingegen noch eine zentrale Rolle ein. Als Dikastes basileus (grob übersetzt: königlicher Richter) steht er noch über der/dem Dikastes Kassandra/Alexios und behält die endgültige Entscheidungsbefugnis, wann die nächste Ära beginnen darf, bei sich. Nicht zuletzt wird sein Sohn Atlas, der generell schon nicht mehr viel zu sagen hatte, mehr oder minder versehentlich von dessen aufstrebenden Geliebten getötet.
Erd- und Wasserringe
In der antiken Überlieferung gestaltet Poseidon die Insel etwas um, damit Kleito, mit der er fünf Zwillingspaare, also Atlas und dessen neun Geschwister zeugte, sicher und geschützt vor äußeren Zugriffen leben konnte:
„Er trennte deshalb auch den Hügel, auf welchem sie [Kleito] wohnte, rings herum durch eine starke Umhegung ab, indem er mehrere kleinere und größere Ringe abwechselnd von Wasser und von Erde um einander fügte, und zwar ihrer zwei von Erde und drei von Wasser, und mitten aus der Insel gleichsam herauszirkelte, so daß ein jeder in allen seinen Teilen gleichmäßig von den anderen entfernt war;“ 4
Kurzgefasst: Um den zentralen Berg liegen zwei Erdringe, die durch Wasser voneinander getrennt werden. Wirft man nun einen Blick auf die Karte von Atlantis, lässt sich diese Formation exakt auf die Karte des Videospiels übertragen. Man kann also eigentlich nur davon ausgehen, dass die am Spiel beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ubisoft einen Blick in Platons Erzählung oder in die entsprechende Forschungsliteratur geworfen haben müssen, um die Weltkarte so genau nachzubauen.
Brückenbauten und Prunkvillen
Platon berichtet zudem, dass die Nachkommen von Atlantis ihre Stadt weiter ausbauten und Brücken zur Überwindung der Wassermassen bauten. Sie brachen außerdem die Erdringe auf, damit diese von großen Ruderschiffen passiert werden konnten. Ein ähnlicher baulicher Fortschritt ist auch in Assassin’s Creed Odyssey zusehen, in dem die Ringe der Stadt bereits durch prächtige Brückenbauten verbunden worden sind, auf denen es sich ähnlich einer breiten Allee flanieren ließe. An ihrem Ende auf dem äußersten Ring befinden sich unter anderem die herrschaftlichen Prunkvillen ähnlichen Doma der Archonten mit stilisierten Türmen und verschiedenen Ebenen, auf denen sich die Herrscher von ihren Wachen begleitet aufhalten können.
Von Hybris und Menschenexperimenten
Im virtuellen Atlantis leben Menschen mit den Isu in einer Welt. Wie schon angedeutet, herrscht hier nicht immer Einigkeit im Umgang miteinander und dem gemeinsamen Zusammenleben. Schließlich findet Kassandra/Alexios heraus, dass einige Isu im Auftrag von Juno und deren Geliebten Aita Experimente an Menschen unternehmen und aus diesen neue, wilde Geschöpfe züchten wollen, welche sie als Waffe für einen höheren Plan nutzen wollen.
Der Untergang von Atlantis
Wie sich auf Kassandras‘/Alexios‘ Streifzügen zeigt, stammen aus diesem Labor auch der Minotaurus und die Medusa. Da Menschenexperimente von Poseidon verboten worden sind, werden Juno und ihre Anhänger aus Atlantis verbannt und mithilfe einer Sintflut ein neuer Zyklus eingeläutet. Solange Atlantis nämlich nicht als perfekt beurteilt werden kann, wird die Stadt alle sieben Jahre geflutet, um danach wieder neu aufgebaut zu werden. Quasi ein Reset.
An so etwas hat Platon damals sicher noch nicht gedacht, doch machen auch er bzw. die Götter sich eine Art Sintflut zunutze, um die Stadt von ihrer Unreinheit auszuwaschen. Dabei liegt in der antiken Erzählung die Ursache für den Untergang der Stadt nicht in der Hybris der Isu, sondern bei den Menschen, die sich immer mehr in das atlantidische Göttergeschlecht eingemischt haben und es dadurch verkommen ließen. Als Dikastes fällt Kassandra/Alexios schließlich den Urteilsspruch, dass Atlantis neu aufgesetzt werden müsse, bei Platon hingegen sind es die Götter, welche die zweite Flut über die Stadt als Bestrafung für die zu machtsüchtig gewordenen Menschen schickten.5
Anmerkungen
- S. M. Kleu, Ubisofts „Assassin’s Creed Odyssey“: Die neue Darstellung der antiken Geographie“, in: Orbis Terrarum 18 (2020), S. 268.
- Vgl. „ludonarrative Dissonanz“ https://de.wikipedia.org/wiki/Ludonarrative_Dissonanz.
- Vgl. etwa die Erhebung von sich als gottgleich darstellenden Tyrannen und absoluten Herrschern, dem Menschen, der sich über die Natur stellt und die auf Rassentheorie begründete nationalsozialistische Ideologie vom „Ariertum“.
- Platon, Kritias 203.
- Platon Kritias 213. Bedauerlicherweise bricht hier die Überlieferung ab.
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