Veröffentlicht: 6. Dezember 2022 – Letzte Aktualisierung: 3. August 2023
Triggerwarnung und Vorbemerkung
Das Comic Bezimena, das wir heute besprechen, beinhaltet eindeutig pornographische Darstellungen und thematisiert Dinge wie sexualisierte Gewalt, Kindesmissbrauch, Mord und versuchten Suizid. Leser*innen, die nicht mit diesen furchtbaren Themen in Kontakt treten möchten, bitte ich, den vorliegenden Artikel auf keinen Fall zu lesen, sondern sich stattdessen hier einen anderen Beitrag auszuwählen.
Der Inhalt
Die Priesterin und Bezimena
Eine alte Frau namens Bezimena – ein Wort, das in mehreren slawischen Sprachen „namenlos“ bedeutet – liegt in einem Zustand tiefster innerer Ruhe an einem See. Dort wird sie von einer jungen Priesterin gestört, die um Hilfe ruft, da gerade ihre Tempel geschändet werden. Als sich die Priesterin erbost zeigt über die Ruhe, die Bezimena trotz der schlimmen Umstände bewahrt, packt die ältere Frau sie und ertränkt sie allem Anschein nach in dem See.
Ein von Trieben geleiteter Junge
Doch dies ist nicht das Ende der Geschichte der Priesterin. Denn sie wird – vielleicht zwischen den Weltkriegen – als Sohn einer wohlhabenden Familie wiedergeboren, der auf den Namen Benedict hört. Bereits in frühester Jugend erweist sich Benedict als ein äußerst lüsterner Junge, der auch in der Öffentlichkeit kaum die Finger von seinem Penis lassen kann, was ihm und seiner angesehenen Familie viel Ärger beschert. So muss er schließlich die Schule verlassen und lernen, seine Triebe geheim zu halten.
Als junger Mann versteckt er sich regelmäßig im Gebüsch eines Zoos. Wie er als Schulkind seine Mitschülerinnen anstarrte und dabei onanierte, tut er nun selbiges im Gebüsch, von wo aus er Zoobesucherinnen heimlich beobachtet. Durch familiäre Beziehungen wird er zum Hausmeister des städtischen Zoos und eine Zeit lang hat es den Anschein, als hätte Benedict einen Weg gefunden, ein unauffälliges Leben zu führen.
Die „weiße Becky“
Doch eines Tages erscheint eine alte Klassenkameradin im Zoo, die „weiße Becky“, die ihn schon in seiner Kindheit maßlos fasziniert hatte. Becky vergisst ihr Skizzenbuch im Zoo. Als Benedict dies bemerkt, möchte er es ihr hinterherbringen, doch endet alles damit, dass er von ihr erwischt wird, wie er onaniert, während er sie heimlich durch ein Fenster beim Baden beobachtet.
Benedict ergreift die Flucht. Als er zuhause in Beckys Skizzenbuch schaut, stellt er zu seiner großen Überraschung fest, dass dieses voll von erotischen Zeichnungen ist. Noch verwunderlicher ist, dass der Mann in den Skizzen wie er selbst aussieht und sich in dem Buch Zeichnungen vom heutigen Tag befinden. So stellt eine der Zeichnungen die Szene dar, bei der Becky Benedict beim Onanieren erwischt hat, als er sie beim Baden beobachtete. Hatte Becky das Buch absichtlich zurückgelassen, damit Benedict es findet? Und wie können in dem Buch Bilder von Ereignissen sein, die noch gar nicht stattgefunden hatten, als Becky das Buch im Zoo liegen gelassen hatte?
Notizen im Buch geben ihm Treffpunkte vor, an denen er zu bestimmten Mondphasen und Uhrzeiten erscheinen soll, um Sex mit Beckys Hausmädchen, ihrer Begleiterin aus dem Zoo und später auch mit ihr selbst zu haben. Für Benedict gibt es in der Folge nur das Buch und die Treffen. Er verwahrlost zunehmend und erscheint nicht mehr bei der Arbeit. Außerdem beginnen ihn Alpträume zu plagen. Im Traum wird der Beobachter zunächst zum Beobachteten. Später verwandelt er sich in seinen Träumen in einen Hirsch, der den gesamten Traum über von Hunden gehetzt wird.
Ein böses Erwachen
Doch dann stellt sich heraus, dass Benedict sich die Treffen mit Becky und den anderen beiden Frauen eingebildet haben muss. Vielmehr scheint er in den entsprechenden Nächten insgesamt drei etwa 12-jährige Mädchen missbraucht und ermordet zu haben. Als er im Gefängnis den Freitod wählt und sich gerade zu erhängen beabsichtigt, kehrt er wieder zurück in den Körper der Priesterin, die schließlich von der alten Bezimena aus dem Wasser gezogen wird und doch nicht gestorben ist …
Hintergrundinformationen
Im Anschluss an die Erzählungen folgen Anmerkungen der Autorin. Hier berichtet sie, wie sie als 15-Jährige im serbischen Teil des ehemaligen Jugoslawien kurz vor Ausbruch des Balkankrieges über die Vermittlung einer „Freundin“ beinahe zweimal missbraucht worden wäre, wobei in diesem Kontext auch eine VHS-Videokamera eine Rolle spielte. Als sie später nach Kanada auswanderte, wurde sie auch dort ein Opfer sexualisierter Gewalt.
Bei dem Buch handelt es sich also womöglich um eine Art Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse, die den zahlreichen unbekannten und namenlosen Opfern sexualisierter Gewalt gewidmet ist. Der Verweis auf die namenlosen Opfer steht sicherlich in einem Zusammenhang mit dem titelgebenden Charakter Bezimena, da die Autorin bereits vor dem ersten Bild des Comics darauf hinweist, dass „benizema“ in mehreren slawischen Sprachen so viel wie „namenlos“ bedeutet.1
Eine Untersuchung der Antikenrezeption in „Bezimena“
Obwohl das vorliegende Buch durchaus sprachlos machen kann, gibt es natürlich grundsätzlich aus vielerlei Hinsicht einiges über die Erzählung zu sagen. Aufgrund meiner Ausbildung und Expertise konzentriere ich mich im Folgenden allein auf die Antikenrezeption innerhalb der Geschichte. Alles Weitere bitte ich der äußerst ernsten Thematik wegen bei entsprechenden Expert*innen aus anderen Forschungsbereichen nachzulesen, die die übrigen Aspekte bei weitem kompetenter untersuchen können als ich.
Der Mythos von Artemis und Siproites
Dass der Mythos von Artemis und Siproites für die Autorin und Zeichnerin Nina Bunjevac von zentraler Bedeutung für die im Comic erzählte Geschichte ist, zeigt sich schon allein an dem Umstand, dass der Mythos im Untertitel des Buchs und somit an äußerst prominenter Stelle Erwähnung findet.2
Erstaunlicherweise fällt die Überlieferung zu Artemis und Siproites extrem kurz aus. Denn in den Metamorphosen des Antoninus Liberalis3 (2. oder 3. Jh. n.Chr.) heißt es in Paragraph 17 unter dem Stichwort „Leukippos“ nur:
Auch der Kreter Siproites wurde in eine Frau verwandelt, nachdem er bei der Jagd die Göttin Artemis beim Baden gesehen hatte.
Artemis und Aktaion
Die sich im Traum vollziehende Verwandlung Benedicts in einen Hirsch verweist auf den Thebaner Aktaion. Wie Siproites befand sich auch Aktaion in der bekanntesten Version seiner Geschichte auf der Jagd, als er zufällig der Göttin Artemis begegnete, die gerade ein Bad nahm. Artemis befahl Aktaion, keinen Ton von sich zu geben. Als er dies doch tat, verwandelte sie ihn in einen Hirsch, der in der Folge von den eigenen Jagdhunden in Stücke gerissen wurde.4
Beiden Mythen ist gemein, dass Männer die nackte Göttin zufällig während der Jagd beim Baden beobachten und dafür bestraft werden, was sicherlich mit dem jungfräulichen Charakter der Artemis zusammenhängt.
Siproites, Akaion und Benedict
Ein zentrales Thema des Comics ist das heimliche Beobachten von Nacktheit, das wir heute als Voyeurismus bezeichnen würden. Ob dies in einem Zusammenhang mit der Videokamera steht, von der die Autorin Nina Bunjevac im Rahmen ihrer Missbrauchserfahrungen berichtet, muss letztlich offenbleiben. Zu ihrer „Ehrenrettung“ muss man natürlich festhalten, dass Siproites und Akaion unbeabsichtigt der nackten Göttin begegnen, während es sich bei Benedict um einen triebhaften „Spanner“ handelt.
Auf der Titelseite innerhalb des Buchs, auf der erstmals auch der Untertitel angegeben wird, befindet sich auch eine Zeichnung im antikisierenden Stil. Zu sehen ist ein nackter junger Mann, der einer ebenfalls nackten jungen Frau an einem Bach oder See ein Tuch oder Gewand entreißt. Diese Darstellung passt nicht so recht zu den Mythen um Siproites und Akaion. Schlangenförmige Verzierungen könnten auf eine Vermischung mit der späten Medusa-Variante verweisen, in der diese vom Gott Poseidon vergewaltigt und zur – völlig unberechtigten – Strafe von Aphrodite in ein Monster verwandelt wird (Ovid, Metamorphosen 4,604-5,249). Dazu würde passen, dass auf den Türen des Hauses der „weißen Becky“ Schlangen zu sehen sind.
Die Göttin Artemis
Wichtig scheint mir jedenfalls zu sein, dass Artemis in den entsprechenden Mythen kein hilfloses Opfer ist, sondern äußerst wehrhaft in Erscheinung tritt und Rache übt. In diesem Kontext sei darauf verwiesen, dass Artemis als Göttin der Jagd wie ihr Zwillingsbruder Apollon eine tödliche Bogenschützin ist.
In einem Panel kommt Benedict an einer Statue vorbeigelaufen, die viele Leser*innen vielleicht nicht konkret zuordnen können, die ihnen aber definitiv bekannt vorkommen sollte, handelt es sich doch um eine Statue der Artemis, die unter der Bezeichnung Diana von Versailles im Louvre zu bewundern ist. Wenn die Leser*innen die Mythen um Artemis, Siproites und Akaion kennen, bekommt der Blick, mit dem die Statue den sich halb hinter einem Baum versteckenden Voyeur Benedict in dieser Szene zu beobachten scheint, eine ganz eigene Wirkung.
Da die Statue die Göttin der Jagd und des Waldes darstellt, erscheint es angemessen, dass sie im Comic im zwischen Bäumen zu finden ist. Dass Becky als „Objekt“ der Begierde Benedicts als „weiße Becky“ mit Haut wie Alabaster bezeichnet wird, könnte auf die heutige Farbe der Marmorstatue anspielen.
Dass Artemis gelegentlich auch als Göttin des Monds wahrgenommen wird, passt sehr schön dazu, dass die Treffen, zu denen sich Benedict aufgrund der Notizen im Skizzenbuch ermuntert fühlt, in einem Zusammenhang zu bestimmten Mondphasen stehen.
Ein Bach, der den Namen Arktoi trägt, spielt auf die Stoa der Arktoi (Bärinnenhalle) in Brauron, eine Kultstätte der Artemis in Attika an.
Wiederholte Ansichten eines Sternenhimmels könnten einen diskreten Hinweis auf Orion darstellen, aber dies ist ohne entsprechenden Kommentar der Autorin reine Spekulation.
Die Geschlechtsumwandlung
Ein weiteres Element ist das der Geschlechtsumwandlung. Die Priesterin, die wir zu Beginn des Buches kennenlernen, ist zunächst eine Frau, wird dann als Mann wiedergeboren, um im Endeffekt wieder in ihren ursprünglichen Körper zurückzukehren. Inwiefern die Priesterin das alles wirklich erlebt oder sich die Geschichte nur wie eine Art Traum oder Vision in ihrem Kopf abspielt, bleibt offen.5
Weitere Antikenrezeptionen
An einer Stelle im Buch ist eine Statue des Hermes zu sehen, der auch später noch einmal Erwähnung findet, wenn der Planet Merkur – die römische Variante von Hermes – am Himmel erscheint.
Immer wieder ist eine Eule zu sehen, die Benedict zu beobachten scheint. Die Eule passt hervorragend zur Nacht und zum Wald, ist grundsätzlich aber natürlich das Symbol der Göttin Athene.
Nachdem Benedict aus seinem ersten Traum erwacht, scheint es, als hocke ihm ein geflügelter Schatten im Nacken. Dies dürfte eine Anspielung auf die Erinnyen, die Rachegöttinnen der griechischen Mythologie zu sein, die in der römischen Welt als Furien bekannt sind und hier quasi als personifizierte Gewissensbisse in Erscheinung treten.
Mein Eindruck von „Bezimena“
Nina Bunjevac erzählt in Bezimena eine durchaus verstörende Geschichte, die sie mit wirkungsmächtigen Bildern unterlegt. Auch wenn es mir schwerfällt, die Erzählung gänzlich verstehen oder einordnen zu können, ist es mir hoffentlich gelungen, durch meine Kommentare zu definitiven sowie möglichen Bezügen zur Antike zumindest den ein oder anderen Aspekt klarer werden zu lassen.
Ausblick und Querbezüge
Bezimena hat mich an Bryan Doerries erinnert, der sich im Rahmen des Theater of War-Projekts u.a. mit der Frage beschäftigt, wie antike Tragödien wie etwa Sophokles‘ Philoktetes und Ajax aufgrund ihrer Thematisierung physischer und psychischer Verwundungen von Soldaten dazu beitragen können, Kriegsveteran*innen der US-Armee bei der Verarbeitung ihrer Traumata zu helfen.
Nina Bunjevacs Bezimena verstärkt bei mir in diesem Kontext den Eindruck, dass die griechische Mythologie uns auch heute noch so einiges zu sagen hat und Dinge ansprechen kann, die tief in unserem Inneren liegen.
Wenn Ihr weitere Eindrücke über Bezimena gewinnen möchtet, schaut gerne mal bei Sandra (Booknapping) vorbei.
- Römische Blutsauger: Tote beißen nicht (Libri I-III) - 29. November 2024
- Die Bibliothek von Alexandria in „The Atlas Six“ - 28. Oktober 2024
- [Fantastische Antike – Der Podcast] Progressive Phantastik - 21. September 2024
Anmerkungen
- Vielleicht kann man die Geschichte so verstehen, dass es sich bei Benizema um eine Frau handelt, der Schlimmes wiederfahren ist. Als sie von einer jüngeren Frau anlässlich einer Tempelschändung dafür kritisiert wird, zu viel Ruhe zu bewahren, gewährt Benizema ihrer Kritikerin Einblicke in Dinge, die wesentlich schlimmer sein können als das Plündern eines Tempels.
- Der Titel eines Werks zählt nach Gérard Genette zum sogenannten Perietext, der selbstverständlich mit Bedacht und Intention gewählt wird. Im hier vorliegenden Fall tritt der Untertitel allerdings erst im Buch und nicht bereits auf dem Cover in Erscheinung. Somit nimmt man ihn also erst zur Kenntnis, wenn man bereits beschlossen hat, sich näher mit dem Buch zu beschäftigen.
- Geschichten über Verwandlungen erfreuten sich in der Antike einer ausgesprochenen Beliebtheit. Da die Metamorphosen des Antoninus Liberalis weniger populär sind als die gleichnamigen Werke von Ovid und Lucius Apuleius, könnte sich hier noch der ein oder andere Schatz verbergen, zumal manche Geschichte einzig bei ihm überliefert ist.
- Es gibt verschiedene abweichende Varianten und auch mögliche altorientalische Vorlagen oder Parallelen, die im hier relevanten Kontext jedoch keine Rolle spielen. Die oben wiedergegebene Version findet sich bei Kallimachos, Hymnen 5,107-166 und Ovid, Metamorphosen 3,138-252.
- Ein weiteres berühmtes Beispiel für einen Mann, der zur Strafe in eine Frau verwandelt wird, stellt der Seher Teiresias dar, den wir an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt haben. Zu erwähnen ist auch die wunderschöne Thessalerin Kainis, die Poseidon laut Ovids Metamorphosen (12,171–209 und 12,459–531) vergewaltigt hatte. Nach diesem Verbrechen bat Kainis den Gott darum, sie in einen Mann zu verwandeln, damit sie nie wieder etwas Ähnliches würde erleiden müssen. Poseidon gewährte den Wunsch, wodurch Kainis zum unverwundbaren Kaineus wurde.
Super, vielen Dank für die Einordnung. Ich habe Bezimena 2022 gelesen und war einerseits etwas verstört vom Inhalt und den Missbrauchsthemen, andererseits fasziniert von dem Detailreichtum der Zeichnungen. Nur konnte ich die Sage und den Inhalt schwer zusammenbringen. Daher hat mir deine Einordnung sehr geholfen.
Es freut mich wirklich sehr, dass Dir mein Text etwas gebracht hat, weil ich mich da recht schwer mit getan habe.
Ich bin über Sandra (Booknapping) auf das Comic aufmerksam geworden. Als ich es dann gelesen hatte, war ich so ratlos, dass ich es erst einmal für über ein Jahr weggelegt und vor mich hergeschoben habe. Im Nachhinein bin ich aber jetzt wirklich froh, dass ich es gemacht habe, weil mir die Beschäftigung mit den mythologischen Verweisen dann auch selbst geholfen hat, das Comic besser einzuordnen.
Ich bin ja grundsätzlich neugierig auf die weiteren Comics der Autorin. Da mache ich aber jetzt erst mal wieder eine kleine Pause, bevor ich mich da dran wage.