Veröffentlicht: 21. Juni 2020 – Letzte Aktualisierung: 21. September 2022
Herkules, Achilles, Odysseus, Perseus, … Die Liste mythischer Helden ist lang, und ihre Abenteuer wurden nicht nur in der Antike gerne erzählt. Schließlich handelt es sich um spannende und unterhaltsame Geschichten. Mit einem Helden, der mit Mut und Geschick immer wieder den Widrigkeiten trotzt und stetig an seinen Aufgaben wächst, fiebert man einfach auch heute noch mit. „Tribute von Panem“- Autorin Suzanne Collins ist da offenbar der gleichen Ansicht, denn sie bezeichnete sich bereits mehrfach als absoluten Fan der antiken Mythologie und betonte, bewusst Teile dieser Leidenschaft in ihre eigenen literarischen Werke einfließen zu lassen („I was such a huge Greek mythology geek as a kid, it`s impossible for it not to come into play in my storytelling“).[i]
Für ihren bisher größten literarischen Erfolg, hat es ihr allem Anschein nach vor allem die Sage von Theseus und dem Minotaurus angetan.[ii] Auch wenn weit und breit (leider) kein Minotaurus im futuristischen Panem zu finden ist, so dient der Rest der Sage jedenfalls sehr deutlich als Grundgerüst für den so beliebten dystopischen Jugendroman, der 2010 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Das Amerika der Zukunft wird zu Panem – und auch zum antiken Kreta
In einer fernen Zukunft existiert Nordamerika aufgrund von Naturkatastrophen und Kriegen nicht mehr. Aus seinen Trümmern ist der totalitäre Staat Panem entstanden, der in zwölf Distrikte gegliedert ist. In ihrem Zentrum liegt das privilegierte und reiche Kapitol, Regierungssitz des diktatorischen Präsidenten Snow. Jedes Jahr werden seitens des Regimes die sogenannten Hungerspiele ausgerichtet. Sie sollen als Erinnerung und Mahnung an die gescheiterte Rebellion dienen und die Bevölkerung in den Distrikten klein halten, die gnadenlos ausgebeutet und unterdrückt wird. Aus jedem der zwölf Distrikte werden je ein männlicher und ein weiblicher Tribut ausgelost, die ihren jeweiligen Distrikt in der Arena bei einem Kampf auf Leben und Tod vertreten. Der Kampfmodus lautet: Jede/r gegen Jede/n. Nur ein einziger Sieger kann überleben.[iii] Als ihre jüngere Schwester ausgelost wird, meldet sich Katniss Everdeen freiwillig an ihrer Stelle für die 74. Hungerspiele.
Die mythologische Vorlage für Panem
Das antike Kreta: Alljährlich werden sieben Jungen und sieben Mädchen aus Athen in einem kretischen Labyrinth ausgesetzt, um das darin befindliche Ungeheuer durch das Menschenopfer milde zu stimmen. Dieser Brauch ging auf ein zuvor geschlossenes Friedensabkommen zurück: Der Sohn des kretischen Königs Minos war auf griechischem Boden durch einen Hinterhalt getötet worden. Zur Wiederherstellung des Friedens hatten sich die Athener zu dieser Form der Tributzahlung an Kreta verpflichtet. Die Unglücklichen wurden zunächst im Losverfahren ermittelt und von kretischen Gesandten abgeholt. Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, meldet sich der Held Theseus, Prinz von Athen, freiwillig als eines der sieben männlichen Opfer und segelt nach Kreta. Theseus kann dem Minotaurus, in der Vorstellung halb Mensch, halb Stier, tatsächlich das Handwerk legen und mit Hilfe der Königstochter Ariadne auch den Rückweg aus dem Labyrinth finden.[iv]
Die Anlehnung ist frappant: Wie in der mythologischen Vorlage werden regelmäßig Menschenopfer einem Kampf auf Leben und Tod ausgesetzt, es handelt sich um Jugendliche, und in beiden Fällen entscheidet das Los. Eine weitere Parallele: Die Bevölkerung lehnt diese Entrichtung von Tributen ab, ist aber absolut machtlos, was die Unterbindung dieses fortwährenden Schauspiels angeht und lebt in Angst. Der Held beziehungsweise die Heldin meldet sich in beiden Fällen freiwillig als Tribut, um andere zu schützen, wenn auch mit unterschiedlicher Motivation:
Theseus will die grausamen Opferungen beenden, Katniss Everdeen zunächst nur ihre Schwester schützen und selbst irgendwie überleben. Suzanne Collins übernimmt also die grundsätzliche antike Idee und wandelt sie an der ein oder anderen Stelle etwas ab. So ist bei ihren futuristischen Gladiatorenspielen von Anfang an ein Sieger vorgesehen, sie variiert die Anzahl der Tribute und stockt sie von 14 auf 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf. Diese stehen nicht einem gemeinsamen Feind im Labyrinth, sondern sich gegenseitig in einer Arena gegenüber.[v]
Katniss Everdeen: Eine Mischung aus Amazone, Artemis und Spartacus
Deutlich von ihrem antiken Vorbild der Theseus-Sage, weicht Collins dann ausgerechnet bei ihrer Hauptfigur ab. Klar, bei Katniss Everdeen handelt es sich offensichtlich um eine weibliche Protagonistin. Allerdings war Theseus schon vorher mehr oder weniger aus seiner eigenen Geschichte verbannt worden: Collins erklärte, sie habe sich bei ihrer Hauptfigur gar nicht an Theseus, sondern eher an Spartacus orientiert. Ihr gefiel das Motiv des Underdogs, der sich als Sklave zum Symbol des Widerstandes gegen die Unterdrückung und Ungerechtigkeit durch die soziale Oberschicht aufschwang und als Kämpfer in der Arena die Massen begeisterte.[vi] Katniss Everdeen kommt aus dem ärmsten und am wenigsten angesehenen Distrikt Panems[vii] (Panem ist benannt nach dem Spruch Panem et circenses des römischen Dichters Juvenal und bedeutet Brot und Spiele), und auch ihr gelingt es, die Gunst der Zuschauer zu gewinnen – obwohl sie deren Arroganz, Blasiertheit und den ausschweifenden Lebensstil zutiefst verachtet und ablehnt.[viii]
Eine bunte Mischung verschiedener antiker Vorbilder also, die dadurch ergänzt wird, dass sie Katniss Pfeil und Bogen als bevorzugte Bewaffnung an die Hand gibt, deren Umgang sie meisterhaft beherrscht.[ix] Bei der ohnehin schon vorhandenen antiken Grundlage liegt der Verdacht nahe, dass die griechische Göttin Artemis – mit Pfeil und Bogen bewaffnete Göttin der Jagd – die Autorin dazu inspirierte, diese Art der Bewaffnung zu wählen. Darüber hinaus durchstreift Artemis (bzw. römisch Diana) als Jagd-Göttin mit ihren Gefährtinnen die Wälder und fühlt sich dort am wohlsten. Katniss Everdeen hält sich ebenfalls am liebsten in den Wäldern auf und fühlt sich dort – genau wie Artemis – in ihrem Element.[x] Auch sie ist eine geschickte Jägerin, durch den regelmäßigen Gebrauch von Pfeil und Bogen, sowie das Fallenstellen.[xi] Eine rebellische, kampferprobte weibliche Hauptperson trägt zusätzlich auch gewisse amazonenhafte Züge.
Arena-Kämpfer mit Starpotenzial und Glamourfaktor
Wie bereits beim Spartacus-Motiv erwähnt: Katniss gehört dem ärmsten Distrikt des Landes an. Sie und die anderen Tribute müssen, wenn sie in der Arena eine Chance haben wollen, die Bevölkerung des Kapitols, die reiche und privilegierte Oberschicht, für sich gewinnen. Stehen sie bei dieser hoch im Kurs, winken finanzkräftige Sponsoren und bessere Chancen zu gewinnen.[xii] Die Spiele dienen in erster Linie der Unterhaltung, vor allem da das Kapitol selbst selbstverständlich keine eigenen Tribute stellt.[xiii] Die Tribute der einzelnen Distrikte werden von Stylisten hergerichtet, interviewt und erhalten Wertungen zu ihren Trainingsleistungen, um sich bestmöglich zu präsentieren. Dem Sieger oder der Siegerin winkt zur Belohnung eine üppige Siegprämie, Lebensmittel für den gesamten Distrikt und ein sorgenfreies Leben.[xiv] Es werden Wetten auf sie abgeschlossen, und sie werden zu Sexsymbolen stilisiert.[xv] Wie bei erfolgreichen antiken Gladiatoren, die als Popstars ihrer Zeit galten.
Sozialkritik in antikem Gewand: Die vergnügungssüchtigen Bewohner des Kapitols als Spiegel der römischen Klassen-Gesellschaft
Auch im alten Rom entschieden nicht zuletzt die Zuschauer über Wohl und Wehe eines Gladiators, und der Spartacus-Aufstand (73-71 v.Chr.) richtete sich gegen die perfiden Machtstrukturen und die Dekadenz des römischen Imperiums. Letztere findet in „Die Tribute von Panem“ im beschriebenen mondänen Lebensstil der Kapitol-Bewohner Ausdruck, sowie in deren geradezu verschwenderischen Umgang mit Ressourcen und Lebensmitteln. Die Bevölkerung leidet Hunger, während es im Kapitol an nichts fehlt. Sie sind blind für die Nöte der Bevölkerung in den Distrikten und andererseits auch nicht an ihnen interessiert, weil es ihnen selbst gut geht und es insofern nicht ihre Probleme sind.
Sie blicken auf die Menschen herab, die im Prinzip dafür sorgen, dass sie dieses Leben im Luxus überhaupt führen können. Die Opulenz ist für sie Gewohnheit und langweilt sie geradezu, was in extravaganten Frisuren und Outfits ihren Ausdruck findet. Sie wirken daher auf die Hauptfigur, die stets ums nackte Überleben kämpfen musste, geradezu grotesk.[xvi] Sie sind es gewohnt keinen Mangel zu verspüren und ergötzen sich aus Langeweile am Leid anderer Menschen, das als eine große Show aufgezogen wird. Katniss Everdeen fragt sich, was sie selbst eigentlich mit der freien Zeit anfangen würde, wenn sie sie nicht auf das Beschaffen von Essen verwenden müsste.[xvii]
Römische Dekadenz
Dieser Überfluss, die Überheblichkeit, der Egoismus und die Prunksucht, erinnern einmal mehr an die bei der römischen Oberschicht so beliebten Orgien. Einige Mitglieder der mächtigen Gesellschaft des Kapitols (Anlehnung an einen der sieben Hügel Roms) tragen daher anscheinend römische Namen.
Bei näherer Betrachtung sind viele dieser Namen speziell den Regierungszeiten von Kaiser Nero (54-68 n.Chr.) und seinen drei flavischen Nachfolgern, Vespasian (69-79 n.Chr.), Titus (79-81 n.Chr.), Domitian (81-96 n.Chr.), entnommen. Nach Neros Regentschaft herrschten ein Jahr lang Bürgerkrieg und unruhige Verhältnisse, bis Flavius Vespasianus die Lage beruhigen und stabilisieren konnte. Unter seiner Herrschaft wurde mit dem Bau des Kolosseums begonnen, den sein Sohn Titus beendete, sodass unter den Flaviern in gewisser Weise ein neuer Grad des massenwirksamen Spektakels erreicht wurde.
Antike Namen in Panem
- Seneca Crane – der oberste Spielmacher der 74. Hungerspiele; Lucius Annaeus Seneca (ca. 1-65 n.Chr.) war römischer Senator und Schriftsteller (später auch Philosoph) zur Regierungszeit Kaiser Claudius` (41-54 n.Chr.) und Neros (54-68 n.Chr.). Für Letzteren übernahm er Teile der Regierungsgeschäfte und war sein Lehrer.
- Plutarch Heavensbee – der oberste Spielemacher der 75. Hungerspiele; Nach dem griechischen Schriftsteller und Philosoph Plutarch (ca. 45-125 n.Chr.).
- Claudius Templesmith – Kommentator der Hungerspiele; Claudius war einer der beliebtesten männlichen Vornamen des römischen Reiches, unter anderem auch der von Kaiser Claudius.
- Caesar Flickerman – Showmaster und Entertainer; Nach dem wohl bekanntesten Römischen Feldherrn Gaius Julius Caesar (100-44 v.Chr.).
- Titus, Cato, Brutus – Tribute der vom Kapitol favorisierten Distrikte; benannt nach Kaiser Titus (stellte in seiner zweijährigen Regierungszeit das Kolosseum fertig), dem Redner Marcus Porcius Cato (234-149 v.Chr.) und Caesars Adoptivsohn Marcus Iunius Brutus Caepio (85-42 v.Chr.).
- Flavius, Octavia – Stylisten-Team; Nach der Familie der Flavier, Octavia war Kaiser Neros erste Ehefrau.
- Romulus Thread – Oberster Friedenswächter von Distrikt 12 und für seine Brutalität bekannt und gefürchtet; Benannt nach Roms mythologischem Stadtgründer.
- Messalla – Mitglied der Film-Crew; Nach Marcus Valerius Messalla Corvinus (64 v.Chr.-8 n.Chr.), römischer Autor, Feldherr und auch großer Kunstgönner.
- Lavinia – geächtete Kapitol-Bewohnerin (Avox); Lavinia ist in der römischen Mythologie die Tochter des Königs Latinus.
- Lucia – Spielmacherin; Weibliche Form des beliebten römischen Vornamens Lucius.
Seneca und Plutarch: Ein Römer, ein Grieche und die Philosophie der Hungerspiele
Seneca Crane ist der Oberste Spielemacher und somit für die Konzeption der 74. Spiele und die Gestaltung der Arena zuständig.[xviii] Er wird im Anschluss an die Spiele öffentlich hingerichtet, weil er die Gunst von Präsident Snow verspielt hat und dieser ihm nun misstraut.[xix] Um eine gute Show zu bieten, hat Seneca Crane zugelassen, dass erstmalig zwei Tribute die Spiele gewinnen und sich damit über die bewährten Regeln hinwegsetzen. Er hat damit indirekt und unbewusst dazu beigetragen, Katniss zum Symbol des Widerstands zu machen – das kommt Hochverrat gleich, gewollt oder nicht. Seine Idee von einem großen Spektakel durch die Unterstützung des beim Publikum beliebten Underdogs, ist nach hinten losgegangen. Die entwickelte Eigendynamik ist nicht mehr mit der Grundidee der Spiele und der Staatsdoktrin vereinbar.
Sein Namenspatron, der römische Senator und Philosoph Lucius Aenneus Seneca, wurde schon von Zeitgenossen kritisch und kontrovers bewertet, deckte sich sein politisches Handeln doch nicht immer mit den von ihm propagierten philosophischen Lehren.[xx] Lucius Seneca war über lange Zeit der Lehrer Kaiser Neros. Er übernahm, als Nero 17-jährig an die Macht kam, einen Teil der Regierungsgeschäfte. Als geschickter Redner und Schriftsteller, schrieb er Neros Reden und war für dessen öffentliches Ansehen zuständig.[xxi]
Seneca Crane
Als Oberster Leiter und Organisator von Spielen, die der Unterhaltung des Volkes dienen, trägt auch Seneca Crane in „Die Tribute von Panem“ die Verantwortung für die öffentliche Wirkung seines Präsidenten. Die Spiele sollen Präsident Snow die Loyalität des Volkes sichern – was bekanntermaßen misslingt und zu seiner Hinrichtung führt. Seinem antiken Vorbild erging es nicht besser: Senator Lucius Seneca verspielte gleichermaßen die Gunst seines Herrschers und wurde im Jahr 65 n.Chr. schließlich von Nero der Mittäterschaft an einer gegen ihn gerichteten Verschwörung (Pisonische Verschwörung) bezichtigt und aufgefordert, Suizid zu begehen.[xxii] Seneca konnte zwar nichts nachgewiesen werden, und er war sehr wahrscheinlich unschuldig, der Kaiser aber hatte sein Urteil ohnehin bereits gefällt.[xxiii] Seneca wusste, dass sein Schicksal besiegelt war und leistete Neros Aufforderung daher Folge.
Die Verfilmung des ersten Buches orientiert sich noch stärker an der römischen Vorlage als der zweite Band der Romanvorlage: Seneca Crane wird nicht hingerichtet, sondern begeht tatsächlich einen erzwungenen Selbstmord. In einer der letzten Szenen des Films sieht man, wie er in einen Raum gesperrt wird, in dem sich als Aufforderung lediglich einige hochgiftige Beeren befinden. Ironischerweise die Beeren, mit denen die beiden Gewinner der Spiele die Veranstalter zuvor überlistet und ihrer beider Überleben erzwungen hatten.
Auf Seneca folgt Plutarch – Antithese oder die Frage nach dem gerechten Staat?
Offenbar hat Suzanne Collins Gefallen an Schriftstellern und Philosophen in der Rolle als Organisatoren und Entwicklern von Gladiatorenspielen gefunden. Der Nachfolger Seneca Cranes ist Plutarch Heavensbee.[xxiv] Er ist heimlich ein Kopf der Rebellion und organisiert die Spiele, um die Hauptfigur zu retten. Für Präsident Snow macht sich der Wechsel des Obersten Spielmachers also nicht wirklich bezahlt – im Gegenteil, diesmal wird er sogar vorsätzlich getäuscht.
Der Name Plutarch könnte eine Antithese zu seinen Interessen sein: Er will die Plutokratie, die Herrschaft der Reichen, stürzen. Dadurch, dass sein Vorgänger auch schon den Namen eines Philosophen trägt, könnte sich hinter dem Namen aber auch eine Gegenüberstellung verschiedener philosophischer Ansichten verbergen. Der Grieche Plutarch vertritt eine völlig andere philosophische Lehre als Seneca. Er ist ein Vertreter der Lehren Platons, während Seneca Stoiker ist.
Platon setzte sich in seiner Politeia unter anderem mit der Frage nach dem gerechten Staat auseinander. Ziel sollte ein gerechtes und glückliches Zusammenleben sein, da es die Natur des Menschen sei, stets nach dem für sie Guten zu streben und glücklich zu werden, wobei der tiefere Sinn für sie nicht greifbar ist.[xxv] Daher könne dies nur erreicht werden, wenn der Staat von Philosophen gelenkt, oder sich zumindest nach deren Lehren richten würde, sodass die Vernunft und Einsicht das Gemeinwohl regieren.[xxvi] Am Ende der Buch-Trilogie und auch der Filmreihe übernimmt Plutarch Heavensbee als Minister für Kommunikationswesen eine zentrale Aufgabe in der neugegründeten Republik Panem.
Panem als Abbild von Platons Idee vom Idealstaat
Eventuell hat Suzanne Collins ihren Plutarch also absichtlich nach einem Anhänger der Lehren eines Skeptikers benannt, der dem politischen System seiner Zeit kritisch gegenüberstand, dessen Ideen aber auch von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet sind. Platon lehnte Herrschaftsformen wie Timokratie, Oligarchie und Tyrannei ab, war aber gleichzeitig auch ein Gegner der Volksherrschaft. Die Demokratie räumt nach seinem Verständnis zu viele individuelle Freiheiten ein – zum Leidwesen des Gemeinwohls, da so auch unvernünftigen, eigennützigen Personen die politische Teilhabe ermöglicht wird. Für ihn ist nicht jeder Mensch gleich, einige Personen sind fähiger als andere.[xxvii] Zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse ist jeder Mensch auf die Hilfe anderer angewiesen und eine Gesellschaft agiert arbeitsteilig. Jeder spezialisiert sich auf seine besonderen Fähigkeiten, um den Wohlstand der Gemeinschaft zu mehren.[xxviii]
Für Platon sind daher Polizei und Militär notwendig, aber auch eine Regierung, die diese kontrolliert. Platons Staat beruht also auch auf einer Klassen-Gesellschaft wie Panem: Die Wächter (phýlakes)[xxix], die Herrschenden (árchontes)[xxx], die Masse der arbeitenden Bevölkerung (epithymêtikon)[xxxi] und Sklaven. Die Klassen in Platons Idealstaat sind voneinander abgegrenzt und die Zugehörigkeit jeder Person durch die Geburt festgelegt. Die Struktur dieses Idealstaates ist ein Abbild der in „Die Tribute von Panem“ geschilderten Staats- und Gesellschaftsform: Friedenswächter, das Kapitol, die arbeitende Bevölkerung in den Distrikten und die entrechteten Avox, die Sklaven gleichgesetzt werden können. Ein hierarchisches Gesellschaftssystem beherrscht von Zensur und Zwängen, das – in der Theorie – ein gutes Miteinander gewährleisten soll.
Plutarch Heavensbee – ein ambivalenter Charakter
Plutarch Heavensbee will den beschriebenen Staat zwar stürzen und ist Befürworter der Demokratie, agiert dabei aber bisweilen undurchsichtig und manipulativ. Seine Strategie besteht aus politischen Finten. Auch er kategorisiert die Menschen, mit denen er zu tun hat nach ihrem Nutzen und ist eine ambivalente Figur.[xxxii] Man kann nicht wirklich urteilen, ob er ein guter oder schlechter Charakter ist, er scheint allerdings eine gewisse Sympathie und Bewunderung für die Hauptfigur Katniss Everdeen zu hegen und setzt sich besonders für sie ein. Der griechische Philosoph und Schriftsteller Plutarch ist einer der wenigen Autoren, die über den Spartacus-Aufstand berichteten, und der sich dabei wohlwollend und bewundernd über den Anführer der Aufstände äußert, dem er viele positive Eigenschaften, wie Mut und Stärke, attestiert.[xxxiii] Er zeigt insofern Verständnis für dessen Handeln und die Beweggründe.
Die Figur des Mentors: Mehr als ein Trainer
Um sie bestmöglich auf die Spiele vorzubereiten, wird Katniss und ihrem Mittribut Peeta der letzte Sieger ihres Distrikts an die Seite gestellt – Haymitch Abernathy.[xxxiv] Seine Funktion geht weit über die Rolle eines Trainers, Lehrers und Ratgebers hinaus, der mit seinem persönlichen Erfahrungsschatz helfen soll, die Spiele zu gewinnen. Er organisiert Sponsoren und sendet deren Geschenke in die Arena.[xxxv] Mit der Zeit wird er immer mehr zu einem väterlichen Freund, der sich um seine Schützlinge sorgt. Er wird mit seiner Aufgabe in den Büchern explizit nicht als Trainer, sondern als Mentor bezeichnet, und seine beschriebene Entwicklung im Laufe der Handlung zeigt, dass er seine Rolle ganz im Sinne des antiken Vorbildes ausfüllt.
Der zunächst auf das Überleben in der Arena ausgerichtete Fokus weitet sich danach auch auf einen persönlichen Bereich aus, und Haymitch steht Katniss und Peeta auch nach ihrem Sieg bei. Er unterstützt, berät und begleitet sie mehr denn je. In der Antike vertraut Odysseus, als er in den Trojanischen Krieg zieht, seinen Sohn Telemachos der Obhut seines Freundes und Vertrauten Mentor an. Für Telemachos ist er fortan Vaterersatz, Freund, Vertrauter und Lehrer.[xxxvi] Oft schlüpft auch zeitweise die Göttin der Weisheit, Athene, in die Rolle Mentors.[xxxvii]
Die unzertrennlichen Zwillinge Castor und Pollux
Die Zwillinge Castor und Pollux sind als die Dioskuren bekannt. Es gibt verschiedene Versionen ihrer Geschichte, aber nach der gängigsten war Kastor sterblich, Pollux (eigentlich Polydeukes) hingegen unsterblich: Pollux war der leibliche Sohn des Zeus mit der spartanischen Königin Leda, somit ein Halbgott. Kastor war der Sohn Ledas mit ihrem Ehemann Tyndareus. Beide wurden angeblich in derselben Nacht geboren und sind daher Zwillinge.
Als der sterbliche Kastor getötet wurde, bat Pollux seinen Vater Zeus darum, selbst sterblich zu werden, um seinem Bruder ins Totenreich folgen zu können. Zeus stellte ihn vor die Wahl, entweder ganz zum Gott zu werden und im Olymp zu leben oder sterblich zu werden und jeweils die Hälfte seiner Zeit bei den Göttern im Olymp und bei seinem Bruder in der Unterwelt zu verbringen. Pollux wählte letztere Variante und pendelte fortan gemeinsam mit seinem Bruder abwechselnd zwischen Olymp und dem Hades. In einer anderen Version bittet Pollux Zeus, Kastor nach dessen Tod unsterblich zu machen. Zeus kam dem Wunsch nach, und beide wurden als Sternbild des Zwillings am Himmel wiedervereint.
In „Die Tribute von Panem“ heißen zwei Brüder unter den Rebellen Kastor und Pollux. Wie beim mythologischen Vorbild, kommt Kastor bei einem Kampf ums Leben, und Pollux trauert fortan um seinen Bruder. Eventuell ebenfalls eine bewusst gesetzte Anlehnung: Pollux hat als Avox (Geächteter und Sklave) jahrelang in den Abwasserkanälen des Kapitols gearbeitet bevor sein Bruder ihn freikaufen konnte. Anders als in der griechischen Mythologie lebte also in diesem Fall Pollux, zumindest eine Zeit lang, in der „Unterwelt“.
Fazit – Die Antike als Grundgerüst einer modernen Story
Suzanne Collins darf sich mit Fug und Recht als Freak in Sachen griechischer und römischer Mythologie und Geschichte bezeichnen. Sie hat nicht nur viele verschiedene Anlehnungen eingebaut, ihre Romane sind gespickt mit antiken Namen und Bezügen. Manche dieser Bezüge sind nicht so klar wie andere, es bleibt daher viel Raum zur eigenen Interpretation der zahlreichen Anspielungen. Einige, wie die Theseus-Sage oder der Spartacus-Bezug, treten dagegen sehr deutlich hervor und bilden – in abgewandelter Form – das Grundgerüst der Handlung. Wahrscheinlich, weil sie entweder einen wahren historischen Kern haben oder aber, weil die Hauptmotive und Phänomene der Geschichte einfach zeitlos sind.
Viele der behandelten Themen antiker Mythen und Epen, sowie philosophischer Schriften, sind heute noch immer aktuell, eventuell sogar mehr denn je: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Politik, soziale Ungleichheit, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, Unterdrückung, der Kampf für Chancengleichheit, Courage, Konsumgesellschaft, Zugang zu Bildung und Ressourcen, Medien und Überwachungsstaat oder auch menschliches Miteinander und Zusammenleben. Sie können als Quelle der Inspiration dienen, weil der Kern der jeweiligen Geschichte bleibt, die Story selbst allerdings wandelbar ist und sich an die heutige Zeit anpassen lässt.
Anmerkungen
Anmerkungen 1-10
[i] David Levithan (2018, Oktober 18), Suzanne Collins Talks about `The Hunger Games`, the Books and the Movies. Abgerufen am 18.06.2020, von https://www.nytimes.com/2018/10/18/books/suzanne-collins-talks-about-the-hunger-games-the-books-and-the-movies.html.
[ii] Rick Margolis (2008, September 2), A Killer Story: An Interview with Suzanne Collins, Author of ‚The Hunger Games‘. Abgerufen am 18.06.2020, von https://www.slj.com/?detailStory=a-killer-story-an-interview-with-suzanne-collins-author-of-the-hunger-games.
[iii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 24 f.
[iv] Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Theseus bei Minos, Bayreuth 1974, S. 146 f.
[v] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 24.
[vi] Susan Dominus (2011, April 8), Suzanne Collins’s War Stories for Kids. Abgerufen am 18.06.2020, von https://www.nytimes.com/2011/04/10/magazine/mag-10collins-t.html; Plutarch, Biographie des Crassus 8-11; Appian, Bürgerkriege 1-120.
[vii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 228.
[viii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 69, 74, 76, 133.
[ix] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 46 f., 66, 101 f., 104, 114 f., 123 ff., 215, 221.
[x] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 9, 59 ff.
Anmerkungen 11-20
[xi] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 104, 123 ff.
[xii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 55, 65, 118, 131, 154 f.
[xiii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 53.
[xiv] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 25.
[xv] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 67.
[xvi] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 73 f.
[xvii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 76.
[xviii] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe, S. 29, 98.
[xix] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe, S. 29.
[xx] Tacitus, Annales 13, 42.
Anmerkungen 21-30
[xxi] Helmuth Schneider, Nero, in: Manfred Clauss, Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, München 20104, S. 79.
[xxii] Tacitus, Annales 15, 48-74; Cassius Dio, Römische Geschichte 62, 27; Helmuth Schneider, Nero, in: Manfred Clauss, Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, München 20104, S. 82.
[xxiii] Seneca hatte sich bereits zuvor immer weiter aus der Politik zurückgezogen und der Philosophie zugewandt: Helmuth Schneider, Nero, in: Manfred Clauss, Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian, München 20104, S. 81.
[xxiv] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe, S. 97 f.
[xxv] Platon, Politeia II, 433a.
[xxvi] Platon, Politeia II, 473c-d: „Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit.“
[xxvii] Platon, Politeia II, 370a.
[xxviii] Platon, Politeia II, 369d-373d.
[xxix] Platon, Politeia II, 428d.
[xxx] Platon, Politeia II, 412a-412b.
Anmerkungen 31-37
[xxxi] Platon, Politeia II, 428b.
[xxxii] Lev Grossman (2013, November 21), I’m More Like Plutarch than Katniss: A Conversation with Suzanne Collins and Francis Lawrence. Time talks to the writer-creator of „The Hunger Games“ and the director of „Catching Fire“ — the fourth in an exclusive five-part series. Abgerufen am 18.06.2020, von https://entertainment.time.com/2013/11/21/im-more-like-plutarch-than-katniss-a-conversation-with-suzanne-collins-and-francis-lawrence.
[xxxiii] Plutarch, Biographie des Crassus 8.
[xxxiv] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 55 f., 65 ff.; Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Gefährliche Liebe, S. 17.
[xxxv] Suzanne Collins, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele, S. 55 und 65.
[xxxvi] Homer, Odyssee 2, 225 ff. und 3, 2 ff.
[xxxvii] Homer, Odyssee 1, 2 f., 2, 3 ff., 3, 25 ff., 22, 205 ff., 24, 502 ff.
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