Tolkien und die antike Welt
Mit „Tolkien & and the Classical World“ liegt nun endlich der erste Sammelband vor, der sich ausschließlich auf das spannende Verhältnis zwischen der antiken Welt und ihrer Rezeption in den Werken J.R.R. Tolkiens konzentriert. Werfen wir also einen kurzen Blick auf die einzelnen Beiträge, die Herausgeber Hamish Williams und die 14 weiteren Autorinnen und Autoren für diesen Sammelband verfasst haben.
Da ich selbst als Autor an dem Buch beteiligt war, fasse ich nur den Inhalt zusammen, ohne Wertungen dazu zu äußern.
Section 1: Classical Lives and Histories
Im Anschluss an eine kurze Einführung in die Thematik stellt Hamish Williams den Altertumswissenschaftler Tolkien vor, wobei er hier drei Perioden unterscheidet. Die erste dieser Perioden umfasst die altertumswissenschaftliche Ausbildung Tolkiens in jungen Jahren sowie im Studium, während die zweite Periode mit einer Abwendung von der Antike verbunden war. Die dritte Periode fällt in Tolkiens spätere Jahre, in denen er sich – unter anderem im Zusammenhang mit seinem literarischen Werk – wieder vermehrt mit der Antike beschäftigte (S. 3-36).
Weiter geht es mit Ross Clare, der sich mit Spuren griechischer und römischer Geschichtsschreibung in der Darstellung Númenors beschäftigt. In einem ersten Schritt weist Clare in diesem Zusammenhang auf Parallelen zur Beschreibung Athens in den Werken von Herodot und Thukydides hin. Daran schließen Ähnlichkeiten zwischen römischen Kaiserbiographien und den Beschreibungen der Könige von Númenor an. Als letzten Punkt behandelt Ross die Unterdrückung der Christen durch die Römer und entsprechende Stellen in der númenórischen Geschichte (S. 37-68).
Section 2: Ancient Epic and Myth
Giuseppe Pezzini beschäftigt sich mit den Göttinnen und Göttern in den Werken Tolkiens und ihrem Verhältnis zu den Gottheiten der griechisch-römischen Mythologie. Schwerpunkte liegen dabei auf den Fragen, wie die Göttinnen und Götter mit Menschen (und Elfen) interagieren und inwiefern sich die jeweiligen Götterwelten – auch aufgrund der unterschiedlichen narrativen Rahmenbedingungen – voneinander unterscheiden (S. 73-103).
Im nächsten Beitrag betrachtet Benjamin Eldon Stevens Unterweltreisen und Begegnungen mit Toten in Mittelerde, wobei zentrale Themen wie Verlust, Tot und Vergessen im Vordergrund stehen. Stevens stellt fest, dass die antike Überlieferung den unvermeidbaren Tod negativ auffasst, während dies bei Tolkien durch die Aussicht auf ein ewiges Leben nach dem Tod abgemildert wird (S. 105-130).
Danach rückt Austin M. Freeman die Rezeption von Vergils pietas-Konzept sowie Parallelen zwischen dem Fall Trojas und dem Untergang Gondolins ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Außerdem spricht er sich dafür aus, dass sich Tolkiens estel (Sindarin für ‚Hoffnung‘ oder ‚Vertrauen‘) aus antiken, nordischen und christlichen Elementen zusammensetzt (S. 131-163).
Aufbauend auf den bereits öfters festgestellten Verbindungen zwischen Orpheus und Eurydike auf der einen und Beren und Lúthien auf der anderen Seite untersucht Peter Astrup Sundt den weiteren Einfluss des Mythos von Orpheus und Eurydike auf die Schriften Tolkiens, wobei diesbezüglich Tom Bombadil und die Ents im Vordergrund stehen. So stellt er fest, dass Vergils Georgica und Ovids Metamorphosen ebenso bedeutsame Inspirationsquellen für Tolkien darstellten wie die mittelenglische Versnovelle Sir Orfeo (S. 165-189).
Section 3: In Dialogue with the Greek Philosophers
Es folgt mein eigener Beitrag zum Sammelband, in dem ich Tolkiens Untergang von Númenor mit Platons Atlantis-Dialogen vergleiche. In einem weiteren Schritt untersuche ich den Einfluss der postplatonischen Atlantistradition auf die betreffenden Schriften, bevor ich schließlich Sinn und Funktion der Atlantisrezeption Tolkiens zu ergründen versuche (S. 193-215).
Zu den ersten Artikeln, die auf fantastischeantike.de erschienen sind, zählte ein Vergleich zwischen Platons Ring des Gyges und Tolkiens Einem Ring. Umso mehr freut es mich, dass Łukasz Neubauer diesem spannenden Thema nun einen ganzen Aufsatz gewidmet hat, in dem er die Einflüsse verschiedener realer wie auch irrealer Ringe auf die Entstehung des Einen Rings untersucht (S. 217-246).
Weiter geht es mit Julian Eilmann, der aufzeigt, wie deutlich Tolkiens Geschichte Die Kinder Húrins von der Tragödientheorie des Aristoteles geprägt ist. Denn Tolkien arbeitet hier mit zentralen Elementen der griechischen Tragödie, zu denen etwa das bewusste Hervorrufen starker emotionaler Reaktionen und ein Protagonist zählen, der durch moralisch fragwürdige Entscheidungen und Fehleinschätzungen selbst Verantwortung trägt für die Tragödie, die ihn und seine Familie ins Unglück stürzt (S. 247-268).1
Section 4: Around the Borders of the Classical World
Philip Burton zeigt philologische und historische Perspektiven auf Tolkien und die Klassik auf, indem er sich dafür ausspricht, dass Tolkien stark von Victor Hehn, Otto Schrader und weiteren deutschen Wissenschaftlern geprägt war. Daher habe er Ideen von einer antiken Welt als Ursprung der „westlichen“ Zivilisation sowie aus dem Norden kommenden expansionistischen Indoeuropäern abgelehnt und sei stattdessen von einer organischen Ausbreitung des Indogermanischen und der großen Bedeutung weiträumiger kultureller Kontakte innerhalb Eurasiens ausgegangen (S. 273-304).
Richard Z. Gallant vergleicht die Kulturübernahmen der nomadischen Edain (Menschen) von den Eldar (Elben) mit der Romanisierung der germanischen Stämme während der sogenannten Völkerwanderungszeit. So lassen sich beispielsweise Vasallenverhältnisse, militärische Hilfsdienste, Pufferzonen, die Ausbildung des aristokratischen Nachwuchses oder Sprachübernahmen aufzeigen. Spannend ist, dass dieser Prozess wie im Fall der historischen Vorlage allein durch Schriftzeugnisse der „überlegenen“ Kultur überliefert ist (S. 305-327).
Der letzte Beitrag dieses Themenkomplexes stammt von Juliette Harrison, die aufzeigt, dass die Darstellung von Gondor und Rohan unter anderem an dem Verhältnis der mediterranen Welt zu den frühmittelalterlichen germanischen Stämmen orientiert ist. Anders als in der realen Welt kommt es in Mittelerde jedoch zu einem Zusammenschluss von Gondor und Rohan, um zusammen gegen einen gemeinsamen Feind vorzugehen (S. 329-348).
Section 5: Shorter Remarks and Observations
Kommen wir schließlich zu den kürzeren Beiträgen am Ende des Sammelbands. Alley Marie Jordan vergleicht die Hobbits und deren ländliches Leben mit den Hirten Vergils (S. 353-363), während Oleksandra Filonenko und Vitalii Shchepanskyi antike Einflüsse auf die Bedeutung von Musik in Tolkiens Welt aufzeigen (S. 365-374).
Afterword und Index
Der Sammelband endet schließlich mit einem ausführlichen Nachwort Graham Shipleys (S. 379-394) sowie einem nützlichen Index (S. 399-414).
Bibliographische Angaben:
Hamish Williams: Tolkien & the Classical World, Zürich und Jena 2021.
- Die Bibliothek von Alexandria in „The Atlas Six“ - 28. Oktober 2024
- [Fantastische Antike – Der Podcast] Progressive Phantastik - 21. September 2024
- Walhalla – Die nordische Mythologie im Comic - 31. Juli 2024
Anmerkungen
- Julian Eilmann und ich haben vom ersten Tag an gemeinsam an der RWTH Aachen Geschichte studiert, wobei wir im weiteren Verlauf des Studiums unterschiedlichen Schwerpunkten folgten. Es ist eine äußerst verrückte Geschichte, dass wir nun gute 20 Jahre später beide erstmals gemeinsam an einer Publikation beteiligt sind, die noch dazu englischsprachig ist.
Lieber Michael,
danke für die Vorstellung des Sammelbandes! Ich träume mich gerade verstärkt in Tolkiens Welten und habe mich aktuell auch wieder etwas mehr in seine Inspirationen vertieft. Da kommt dieser Sammelband natürlich wie gerufen.
Ich bin gespannt auf die einzelnen Beiträge!
Viele Grüße
Kathrin
Liebe Kathrin,
freut mich, dass die Vorstellung und der Sammelband Dir gefallen!
Wie schon auf Twitter gesagt, werde ich da demnächst noch einen Podcast zu machen.
Schöne Grüße
Michael
Ich bin schon total gespannt auf die deutsche Podcast-Version!
Und mal nebenbei gefragt: Wenn ich das Buch kaufe, sollte ich das über einen bestimmten Shop tun? (sprich: Gibt es eine Plattform / einen Weg, bei dem ihr durch den Kauf stärker unterstützt werdet als auf anderen?)
Soweit ich weiß nicht. Aber lieb, dass Du Dir darüber Gedanken machst!
Herausgeber Hamish Williams hat übrigens mit einem Teil der Autor:innen einen Podcast zum Buch produziert, den ich hier verlinke:
https://www.youtube.com/watch?v=8MrLEX_yNSQ&t=2497s
Bei fantastischeantike.de wird eine deutsche Variante folgen.