Lavinia – Ursula K. Le Guins Fortsetzung der Aeneis (Buchvorstellung)

Lavinia

Bereits 2008 veröffentlichte Ursula K. Le Guin ihren letzten Roman Lavinia, die Lebensgeschichte eines stummen Nebencharakters aus Vergils Aeneis. Um das antike Epos im Original lesen zu können, frischte Le Guin, die Fantastik-Freunden vielleicht am besten für ihren Erdsee-Zyklus bekannt ist, mit über 70 Jahren noch mal ihre Lateinkenntnisse auf.
2009 gewann der Roman den Locus Award für das beste Fantasy Buch.

Die Geschichte

Lavinia, die Tochter des Königs von Laurentum, wächst in Friedenszeiten heran. Obwohl ihre Mutter nach dem Tod von Lavinias Geschwistern ihrer Tochter das Leben schwer macht, ist Lavinia der Augenstern ihres Vaters. Als es für die junge Frau Zeit wird zu heiraten, willigt ihr Vater ein, sie eine Nacht unter den Geistern ihrer Ahnen verbringen zu lassen. Diese sollen ihr helfen, einen Ehemann auszusuchen. Doch statt eines Vorfahren trifft Lavinia den Geist eines sterbenden Dichters, der erst viele Jahrhunderte nach ihr leben wird – und dieser Mann berichtet ihr von den nahenden Trojanern und vom Krieg, den sie unabwendbar bringen werden.

Le Guin und die Vorlage

Wer Vergils Aeneis kennt, wird von der Handlung des Romans wenig überrascht werden. Le Guin folgt der Vorlage eng. Zeitweise so eng, dass der sterbende Poet sein eigenes Werk für Lavinia als Prophezeiung zitiert und die Königstochter seine Worte mit ihrer Realität abgleicht.

Aber was die Vorlage nicht anspricht, das nimmt sich der Roman vor. In einem Interwiew sagte Le Guin:

„Ich wunderte mich, warum Vergil Lavinia keine bessere Stimme gegeben hat, obwohl er gut darin war, Frauenfiguren zu schreiben. Dann wurde mir klar, dass es nicht in die Struktur der Dichtung gepasst hätte. Vergil konnte nicht. Er musste Schlachten schreiben. Und so fing ich an zu überlegen, was sie [Lavinia] über alles gedacht hätte. Sie ist die Mutter Roms.“1

Der zweite Teil der Geschichte

Lavinia geht über die Aeneis hinaus. Der Roman endet nicht auf dem Schlachtfeld, sondern begleitet seine Protagonistin noch viele Jahre weiter. Erst als Gefährtin von Aeneas, dann als politische Konkurrentin von Ascanius und schließlich als Schutzherrin ihres Sohnes Silvius. Auch hier birgt die Geschichte kaum Überraschungen für Kenner der antiken Sage, erzählt aber liebevoll und detailliert, wie sich ein Frauenleben in der Bronzezeit angefühlt haben könnte.

Eine empathische Stimme

Le Guin lässt ihre Protagonistin gleich zu Beginn warnen „Ich bin nicht die feminine Stimme, die ihr vielleicht erwartet habt. Bitterkeit ist nicht, was mich antreibt.“ und sie hält diese Einstellung fest. Lavinia tritt als zarte Figur auf, die im Laufe der Geschichte an ihren Herausforderungen wächst und charakterlich stärker und stärker wird.

Obwohl immer wieder im Konflikt, vornehmlich mit Männern, behält sie einen empathischen Blick auf die Motivationen, Schwächen und Ängste ihrer Umgebung. Weder ist sie blind für Aeneas‘ Fehler und Schwächen, noch unterschlägt sie Turnus‘ gute Eigenschaften. Weder übersieht sie die Schwächen ihres geliebten Vaters, noch Ascanius‘ Kampf um Anerkennung im Schatten seines berühmten Vaters. Gleiches gilt für die Frauen in Lavinias Leben, sei es die verlorene Kindheitsfreundin Silvia oder die Mutter Amata. Zu keiner Zeit sind Figuren schwarz-weiß, denn so Le Guin weiter:

„Ich sehe nicht, wieso er [Vergil] eine Stimme unterdrücken sollte, egal ob Mann oder Frau. Er ist anders als die meisten klassischen Dichter, in deren Werken Frauenstimmen unterdrückt werden. Er scheint einfach weniger Vorurteile gegen Frauen zu haben. Es ist nicht wie bei Atwood’s Penelope, wo sie Homer regelrecht sagt: ‚Du hast Penelope nicht ihre Seite der Geschichte erzählen lassen!‘ Das ist nicht, was ich tue.“2

„Dieses Buch wurde nicht geschrieben, um Richtig oder Falsch zu bedienen. Man muss Vergil nicht den Kopf über Frauen zurecht rücken.“3

Wenn nicht Feminismus, was dann?

Vergils Aeneis skizziert das Bild eines unvermeidbaren Krieges und Le Guin greift dies für ihren Roman auf. Vor dem Hintergrund der Vorlage vertieft sie den schon angelegten Diskurs über Macht und Krieg bis hin zu der Frage, was einen wahren Helden ausmacht und was die moralischen Kosten eines heroischen Sieges sind. Obwohl zu keiner Zeit aus Aeneas‘ Perspektive erzählt wird, gelingt es Le Guin durch Lavinias Augen einen Helden zu zeigen, der Fehler hat. Einen Helden, der bereut und sich zeitweise vor der eigenen Brutalität zu fürchten scheint. Wie kann man damit leben, was man im Krieg getan hat? Wie verarbeiten, was man überlebt hat?

Es sind diese Charakterfragen, die Le Guins leisen Roman mitreißend, überaus spannend und zu einer würdigen Fortsetzung der Aeneis machen! Vergil dürfte stolz sein.

Wenn ihr euch jetzt fragt, wie genau antiker Mythos und moderne Fantasy zusammen passend, schaut doch mal in Frank Weinreichs Einführung in die Fantasyhier geht’s zur Buchvorstellung!

Ursula Le Guin Lavinia
Photo: Michael Kleu

Belege

1 https://techland.time.com/2009/05/11/an-interview-with-ursula-k-le-guin/ [eigene Übersetzung].

2 https://techland.time.com/2009/05/11/an-interview-with-ursula-k-le-guin/ [eigene Übersetzung].

3 https://www.npr.org/2008/04/27/89698554/novel-gives-roman-maiden-her-moment-in-the-sun?t=1651227696264 [eigene Übersetzung].

Janine Schmitz

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