Veröffentlicht: 18. März 2022 – Letzte Aktualisierung: 21. September 2022
Was haben Der Herr der Ringe, Harry Potter und die Scheibenwelt gemeinsam?
Sauron hat es getan, in Hogwarts lernt man es, und dem Bibliothekar wurde es schon einmal gestohlen. Lichtläufer konnten es entschlüsseln, nachdem es lange Zeit in den Ruinen von Dorval verborgen lag. Und während keiner der Genannten den anderen kennt, laufen ausgerechnet in unserem Teil des Multiversums sämtliche Fäden zusammen und treffen sich in … Ägypten! Genauer gesagt in Theben, wo der Nil von einem kurzen Abstecher Richtung Rotes Meer wieder zurückkehrt und lange vor unserer Zeit die mächtigsten Herrscher in prächtigen Felsgräbern ihr Jenseits im Diesseits hatten, und andersherum.
Theben, am Westufer des Nils gelegen, mit einem phantastischen Blick auf die gigantischen Ruinen der Tempelanlage von Karnak, die es mit ihren einhundert Toren sogar in Homers Odyssee geschafft hat. Theben, vom späten 3. Jahrtausend bis in das 1. Jahrtausend vor Christus eine der wichtigsten Städte Ägyptens, Königsresidenz, zentraler Kultort und Königsnekropole, manchmal sogar Hauptstadt des Landes, und immer ein Zentrum des Wissens und des Austauschs.
Und was haben der Herr der Ringe, Harry Potter, die Scheibenwelt und der Drachenprinz mit Theben zu tun? Die Antwort auf diese Frage finden wir in einer Bibliothek.
Die Thebanische Bibliothek
Niemand weiß, wo sich diese geheimnisvolle Bibliothek genau befunden hat. Auch ihr Besitzer ist unbekannt. Und – der Bibliothekar möge mir vergeben – über ihre Bibliothekare wissen wir ebenfalls nichts. Eigentlich wissen wir gar nichts, könnte man meinen. Als gute Archäolog*innen lassen wir uns von so einer Nichtigkeit jedoch nicht zurückhalten, und ganz, wie wir es aus den Goonies, Indiana Jones und zuletzt Uncharted kennen, gibt es immer einen Lichtstreif am Horizont, meistens in Form einer Karte.
Im Fall der Thebanischen Bibliothek besteht diese Karte aus einer Sammlung von Papyrusrollen. Spektakuläre Papyrusrollen, denn ihr Inhalt ist brisant. Es handelt sich um 19 antike Zauberhandbücher, in denen Rituale beschrieben werden, mit denen man die Götter beschwören und Dämonen kontrollieren kann. 13 Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin aus den letzten rund 200 Jahren vermuten, dass diese 19 Zauberbücher aus ein und derselben Bibliothek stammen: Der Bibliothek eines Magiers, der vor mehr als 1.500 Jahren in Theben gelebt hat.
„But the majority of the magical handbooks, or formularies, which survive from the Roman period were purchased from dealers in the nineteenth and early twentieth centuries, so that their origins can only be inferred. Such is the case with the Theban Library, and for this reason its status as an archive is only a probability rather than a certainty. Nonetheless, the balance of evidence does seem to argue for a relationship among its constituent papyri.“
Korshi Dosoo, A History of the Theban Magical Library, in: Bulletin of the American Society of Papyrologists 53 (2016), 251-274 (252).
Dass sich diese Bibliothek zuletzt möglicherweise in einem Grab befunden hat, dessen Ort ebenfalls unbekannt ist, macht die Sache nur noch interessanter.
Magieforschung
Was im ersten Moment nach Fantasy und Abrakadabra klingen mag, ist tatsächlich ein anerkanntes Forschungsfeld in den Altertumswissenschaften, noch dazu eins, das in den letzten zehn Jahren international stark gewachsen ist. Auch in Deutschland gibt es an mehreren Universitäten die Möglichkeit, antike Magie zu studieren und nach dem Studium weiter zu erforschen.
Einige Beispiele: Der SFB 933 „Materiale Textkulturen“ an der Universität Heidelberg hat bereits 2011 damit begonnen, antike Zaubertexte und magische Artefakte systematisch zu untersuchen[1]. Zwischen 2014 und 2018 wurden an der Uni Magdeburg die antiken Fluchtafeln umfassend erforscht, aus dem Projekt ist eine der umfangreichsten Datenbanken zu den antiken Bleitafeln entstanden[2]. Im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts an den Unis Erfurt und Heidelberg standen von 2017 bis 2019 die Katalogisierung und Analyse der antiken Zauberzeichen[3]. Seit 2018 werden an der Uni Würzburg die koptischen magischen Texte neu übersetzt[4].
Koptisch
„Koptisch“ ist die letzte Sprachstufe des Ägyptischen und wurde etwa seit dem 1. Jahrhundert und bis in das 17. Jahrhundert hinein gesprochen. Die koptische Schrift verwendet das griechische Alphabet anstelle der bisherigen ägyptischen Schriftzeichen, die auf die Hieroglyphen zurückgingen. Im Gegensatz zu diesen alten Schriftzeichen enthält das griechische Alphabet Vokale. Im Zuge der Christianisierung Ägyptens wurde für religiöse Texte ausschließlich das griechische Alphabet verwendet, plus einiger Zusatzzeichen, mit den Laute ausgedrückt werden konnten, die es in der ägyptischen Sprache gab, die jedoch kein Pendant im Griechischen hatten.
Rund 90 ägyptische Zauberhandbücher
Rund 90 antike Zauberhandbücher sind uns heute aus Ägypten bekannt. Sie stammen aus der Zeit, als Ägypten im ersten Jahrhundert vor Christus zu einer römischen Provinz wurde bis hin zur arabischen Eroberung des Landes im siebten Jahrhundert. Die Zauberbücher bestehen aus Papyrus und Pergament und sind in Rollen- und Buchform überliefert, letzteres wird auch Codex genannt. Zu den umfangreichsten gehören eine ca. fünf Meter lange und 35 cm hohe Papyrusrolle, die auf beiden Seiten in Demotisch und Griechisch beschriftet wurde und als „The Great London-Leiden Magical Papyrus“ bekannt ist[5]; Und ein griechisches Zauberbuch mit 72 Seiten, der sogenannte „Große Pariser Zauberpapyrus“. („Demotisch“ ist die Sprachstufe vor dem Koptischen und wurde etwa seit dem 7. Jahrhundert vor Christus und bis in das 5. Jahrhundert nach Christus verwendet.)
In den rund 90 überlieferten antiken Zauberhandbüchern sind über 600 Ritualanleitungen enthalten. Sie veranschaulichen den Reichtum antiker Magie und die Vielfalt ihrer Anwendungsbereiche. Magie spielte eine wichtige Rolle im alltäglichen Leben der Menschen, quer durch sämtliche Gesellschaftsschichten. In den Ritualen geht es um Schutz vor Gefahren, die Heilung von Krankheiten, um Rat bei wichtigen Entscheidungen. Es ging um die Hoffnung auf Erfolg im Beruf, um Anerkennung und Beliebtheit, um Hilfe bei Ungerechtigkeiten und Verleumdung, und darum, den Traumpartner zu finden. Im Grunde genommen waren antike Zauberer und Hexen eine Kombination aus Arzt, Lebensberater, Partnervermittler, Anwalt, Beschützer und Rächer.
Die Wurzeln der Magie in der Fantasy
Und in diesen antiken Zauberbüchern ruhen die Wurzeln der Magie im Herrn der Ringe, in Harry Potter, der Scheibenwelt und im Drachenprinzen. Die Magie, mit der Sauron den einen Ring schmiedete. Die Magie in Zaubertränken, Schutzzaubern und Flüchen. Die Magie, Götter, Geister und Dämonen zu bannen und heraufzubeschwören. Diese gewaltige Macht, die in Ritualen geformt und nach eigenem Willen entfaltet werden kann.
Sauron
Und von Saurons Kraft und Willen ging ein großer Teil in jenen Einen Ring ein, denn auch die Elbenringe waren sehr mächtig, und jener, der sie beherrschen sollte, musste von überwältigender Kraft sein; und Sauron schmiedete ihn im Feurigen Berg im Lande des Schattens. Und während er den Einen Ring trug, konnte er alles sehen, was mit Hilfe der schwächeren Ringe geschah, und die Gedanken ihrer Träger konnte er lesen und lenken.
Silmarillion, Von den Ringen der Macht und dem Dritten Zeitalter (Quelle: https://www.tolkienwelt.de/mittelerde/die-ringe-der-macht.html)
Die Vorstellung, in einem Ring Macht binden zu können, die sich auf seinen Besitzer überträgt, ist auch in den antiken Zauberbüchern überliefert. Ebenso spielen Dunkelheit, unterirdische oder verborgene Orte oftmals eine wichtige Rolle bei der Herstellung magischer Artefakte[6]. Andere zu kontrollieren – Götter, Dämonen oder Menschen – ist ein fester Bestandteil der antiken Zauberpraxis.
Ring für jeglichen Erfolg und jegliches Glück. Ihn wünschen sich Könige und Herrscher. Sehr wirksam.
(PGM[7] XII, 201-269, Übersetzung nach Preisendanz; Abbildung 1)
Und mir künde der NN[8] (der Totendämon), worin oder wieso und wie er mir jetzt wirksam zu Diensten sein kann, und die Zeit, während deren er Beistand leistet. Denn das hast du selbst verliehen, Herrscher, daß es unter den Menschen gelehrt werde.
(PGM IV, 1971 ff., Übersetzung nach Preisendanz)
Ganz anders hingegen ist die Vorstellung, dass die Kraft und der Willen des Magiers die eigentliche Macht in einem Artefakt darstellen. In der antiken Zauberpraxis besitzen Magier und Magierinnen das Wissen, höhere Mächte nach ihren Wünschen zu manipulieren. Aber die Macht, diese Wünsche zu realisieren, die Macht, Artefakte wirkmächtig werden zu lassen, andere Menschen zu kontrollieren, Dämonen zu vertreiben, liegt in den Händen der höheren Mächte, die heraufbeschworen werden.
Harry Potter
Die Hogwarts-Schule für Zauberei und Hexerei steckt voller antiker Magie. Ob Zaubertränke, dunkle Künste oder Kräuterkunde, das alles gibt es auch in den antiken Zauberpapyri. Lust auf einige Beispiele?
Zaubertränke und Gegenmittel
In „Harry Potter und der Halbblutprinz“ zeigt Professor Slughorn seiner Klasse den Zaubertrank „Amortentia“, den „mächtigsten Liebestrank der Welt“[9]. Ron fällt im gleichen Band einem Liebestrank zum Opfer, und nur ein starker Gegentrank kann ihn retten. Anleitungen für beides sind in den antiken Zauberhandbüchern gleich mehrfach überliefert.
Liebestrank. Nimm Löwenwespen, die im Spinnennetz hangen, zerstoß sie in einen Trank und gib’s zu trinken.
(PGM XIII, 319-320, Übersetzung nach Preisendanz, Abbildung 2)
Schöner Trank. Nimm hieratischen Papyrus und schreibe darauf: (Zauberworte) Lieben soll mich, den NN, die NN, Tochter der NN, wenn sie den Trank genommen hat!
(PGM VII, 969-972, Übersetzung nach Preisendanz)
Zaubermittel unschädlich zu machen: Nimm etwas Blei und ritze darauf die einzig wirksame Figur, die in der Rechten eine Fackel hält und in der Linken ein Schwert und auf dem Kopfe drei Sperber und unter den Beinen einen Skarabäus und unter dem Skarabäus eine schwanzbeißende Schlange. Die Schrift um die Figur ist folgende: [Zauberzeichen].
(PGM XXXVI, 178-187. Übersetzung nach Preisendanz; Abbildung 3)
In Harry Potter wird zu Amortentia gesagt, dass es nicht möglich ist, wahre Liebe mittels Zauberei zu erzeugen, lediglich ein starkes Verlangen bis hin zur Obsession. In der antiken Magie existierte hingegen tatsächlich die Vorstellung, wahre Liebe bewirken zu können. Dies konnte durch umfangreiche Rituale geschehen, in denen Tränke keine Rolle spielen, dafür aber unterschiedliche höhere Mächte involviert werden. Die letzte der drei oben zitierten Zauberanleitungen ist dafür gedacht, „Zaubermittel“ unschädlich zu machen. Der griechische Begriff in dem Papyrus lautet Pharmakon und bezieht sich speziell auf Schaden, der durch Tränke und pflanzliche Bestandteile bewirkt wurde.
Dunkle Künste
Harrys Lieblingsfach ist Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Und beides lehren auch die antiken Zauberbücher: Verteidigung und Dunkle Künste.
Ihr Herren Engel, wie diese Kröte, so soll auch der Körper des NN, Sohnes der NN, verfallen und vertrocknen, weil ich euch beschwöre.
(PGM XXXVI, 231-255, Übersetzung nach Preisendanz)
Zorn bannendes Mittel, wirkt gegen alle; denn es wirkt gegen Feinde und Ankläger und Räuber und gegen Angriff von Schreckgeistern und Traumgespenstern.
(PGM X, 24-35, Übersetzung nach Preisendanz)
Kräuterkunde
Der Verfasser des „Großen London-Leidener magischen Papyrus“ hat neben Offenbarungszaubern und allerlei anderen Anleitungen auch an mehreren Stellen Informationen zu Pflanzen und deren Zubereitung aufgeschrieben und die Pflanzenbezeichnungen dabei aus dem Demotischen ins Griechische übersetzt und umgekehrt:
„Widderhorn“: Kephalikê ist sein Name (in der griechischen Sprache): Ein Kraut, es ist in der Art eines Busches wilder Fenchel, sein Blatt und sein Stengel sind eingeschnitten in der Art von der „Menschenliebenden“. Du zerreibst es, wenn es trocken ist, du siebst es und machst es zu Trockenpulver. Gib es auf jegliche Wunde, dann heilt sie.
(pdm xiv, Verso (Rückseite), Kolumne 4, 10-15, eigene Übersetzung; Abbildung 4)
Die Verwendung pflanzlicher Bestandteile, denen eine besondere Wirksamkeit oder eine besondere Verbindung zu einer bestimmten höheren Macht zugeschrieben wurde, ist in vielen antiken Ritualen überliefert. Eine Reihe der in den griechischen und demotischen Zaubertexten erwähnten Pflanzen findet sich auch in Dioskurides‘ Werk „Materia Medica“ aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. In diesem Buch beschrieb der römische Militärarzt Pedanios Dioskurides rund 1.000 Arzneimittel und annähernd 5.000 Rezepte.[10] Das Buch galt über 1.600 Jahre als Standardwerk in Botanik und Pharmakologie.[11]
Die Scheibenwelt
Terry Pratchetts Scheibenwelt steckt voller Magie. Zauberer werden an der Unsichtbaren Universität (UU) ausgebildet, Hexen machen das eher unter sich aus, und überall lauern Dämonen. Um diese kontrollieren zu können, bietet die UU eine Ausbildung zum Dämologen an, und an eben dieser UU ist auch Dr. Hicks als Leiter des Instituts für „Postmortale Kommunikation“ tätig.
Postmortale Kommunikation
Bei der Übersetzung eines Textes aus der sehr alten Golemsprache Ähmianisch benötigt die Direktorin der Golemstiftung, Adora Belle Liebherz, Hilfe, und wendet sich an die UU. Dort wird ihr Dr. Hicks empfohlen, denn der letzte Experte für Ähmianisch war Prof. Flett, und der ist bereits vor mehren Jahrhunderten verstorben. Kein Problem für Dr. Hicks, er beschwört den Emeritus mit Hilfe eines Rituals, zu dem neben einem Kreis und verschiedenen Utensilien auch Totenschädel gehören. Diese sind zwar nicht alle echt, wie sich herausstellt, dafür entpuppt sich der einzig echte Schädel, der zu einem Skelett namens Charlie gehört, als freundlich und gesellig.
„Postmortale Kommunikation“ ist tatsächlich häufig in den antiken Zaubertexten überliefert, und nicht immer sind Schutzkreise und magische Utensilien erforderlich, wenn man nach Antworten sucht. Hier ein Beispiel für ein sehr kurzes Ritual:
Des Thessalers Pitys Befragung eines Leichnams. Schreib auf ein Blatt vom Flachs das: (Zauberworte, 12 Buchstaben). Der Schreibstoff: Mennig und verbrannte Myrrhe und Saft von frischem Wermut und Hauslaub und Flachs. Schreib und steck es in den Mund (des Toten).
(PGM IV, 2140-2144, Übersetzung nach Preisendanz)
Die Übersetzung antiker Zauberanleitungen hat auch ihre Tücken und Fallstricke: Ein Loch im Text an entscheidender Stelle, Begriffe, die man nicht kennt, ein Schreiber, der die Schönschrift-Klasse geschwänzt hat und Worte, die vollkommen verschiedene Bedeutungen haben können, dabei aber annähernd identisch geschrieben werden. In solchen Fällen kann es zu sehr unterschiedlichen Interpretationen kommen, wie das folgende Beispiel zeigt, das ein wenig an Charlie erinnert:
Das griechische Wort Skyphos bedeutet „Becher“ oder „Gefäß“, Skyphion hingegen „Schädel“. Im Plural des Genitivs und in Verbindung mit einer nicht sonderlich gut erhaltenen Textpassage liest der Übersetzer Preisendanz den Titel einer Anleitung als: „Ein bannendes Siegel für die nicht passenden Gefäße, ferner auch dagegen, daß sie nicht orakeln und überhaupt nicht eines von allem ausführen“[12]. Der Übersetzer Smith hingegen deutet die Passage so: „A restraining seal for skulls that are not satisfactory [for use in divination], and also to prevent [them] from speaking or doing anything whatever of this [sort]“[13]. Möglich ist hier sogar noch eine dritte Deutung des Wortes als „Schädelbecher“.
Der Bibliothekar
Der Hüter der Bücher der Unsichtbaren Universität ist „der Bibliothekar“, ein ehemaliger Zauberer, der bei einem Unfall in einen Orang-Utan verwandelt wurde und nicht mehr zurück verwandelt werden will. Ihm obliegt die Aufgabe, auf die magischen Bücher aufzupassen, von denen einige so gefährlich sind, dass sie angekettet werden müssen. In „Wachen! Wachen!“, dem achten Scheibenweltroman, erlebt der Bibliothekar seinen größten Alptraum:
„Ugh?“ fragte der Bibliothekar in der warmen Düsternis. Er setzte den Weg vorsichtig fort und stellte sich schließlich der unausweichlichen Erkenntnis, daß die Spuren in die gleiche Richtung führten wie seine, nun, Schritte. Kurz darauf schob er sich um eine Ecke – und erstarrte. Der richtige Gang. Der richtige Bücherschrank. Das richtige Regal. Die Lücke. Es gibt viele schreckliche Anblicke im Multiversum. Doch für eine Seele, die an den subtilen Rhytmus einer Bibliothek gewöhnt ist, existiert kein schrecklicherer Anblick als ein Loch dort, wo sich eigentlich ein Buch befinden sollte. Jemand hatte das Buch gestohlen.
(Terry Pratchett, Wachen! Wachen! Taschenbuchausgabe 20096, Piper Verlag München, 110.)
Es war ein Angehöriger einer geheimen Bruderschaft, der das Zauberbuch aus der Bibliothek der Unsichtbaren Universität gestohlen hatte, um mit Hilfe des darin niedergeschriebenen Rituals einen Drachen beschwören zu können:
Der Oberste Größte Meister blickte aufs Buch hinab, las die Silben und sprach sie laut aus. Nichts geschah. Er zwinkerte. Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in einer dunklen Gasse. Feuer brannte in ihm, und er war sehr zornig.
(Terry Pratchett, Wachen! Wachen! Taschenbuchausgabe 20096, Piper Verlag München, 48.)
Eine Drachenbeschwörung ist in den antiken Zauberpapyri zwar nicht überliefert, aber Ritualanleitungen in Büchern festzuhalten und mit eigenen Erfahrungen zu kommentieren, wie es der Verfasser der Drachenbeschwörung getan hat, war Gang und Gäbe. Andererseits: Wer weiß, welche Bücher aus der Thebanischen Bibliothek noch im Sand Ägyptens verborgen liegen und auf ihre Entdeckung warten…
Der Drachenprinz
Die Drachenprinz-Saga von Melanie Rawn umfasst insgesamt sechs Bände, von denen der zweite im Englischen „The Star Scroll“ heißt. In ihm entdeckt der Lichtläufer Meath in den Ruinen auf der Insel Dorval alte, verschlüsselt geschriebene Schriftrollen. Im Laufe ihrer Übersetzung stellt sich heraus, dass sich ihr Inhalt mit Zauberern und Zauberei befasst. Ganz so, wie die antiken Zauberrollen, die in den Ruinen einer verschollenen Bibliothek aus der römischen Vergangenheit Ägyptens entdeckt wurden, und von denen einige ebenfalls teilweise oder sogar vollständig verschlüsselt geschrieben waren. Eine vollständig kryptographisch geschriebene Ritualanleitung aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus enthält zum Beispiel ein Ritual zur Erkenntnis eines mächtigen Zauberzeichens.[14] (Abbildung 5).
Abschließende Worte
Die Vorstellungen und Ideen, die in den antiken Zaubertexten überliefert sind, finden sich in zahlreichen modernen Geschichten wieder, oftmals unbewusst, weil sie über die Jahrtausende vor allem in der mündlichen Überlieferung bewahrt wurden. Wer gerne mehr über die antiken Zauberbücher, ihre Ritualanleitungen und die archäologisch überlieferten magischen Artefakte erfahren möchte, der wird in dem neuen Sachbuch der Archäologin Dr. Kirsten Milan fündig: Wie funktioniert antike Magie? Und woher wissen wir, was wir darüber wissen?
Zu dem Buch gibt es aktuell ein Crowdfunding-Projekt mit der Möglichkeit, ein Exemplar mit persönlicher Widmung und noch vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin zu erhalten.
Über die Autorin
Dr. Kirsten D. Dzwiza ist Archäologin (M.A. Uni Mainz, PhD Uni Erfurt) sowie Autorin und war an den folgenden themenbezogenen Projekten beteiligt:
- SFB 933 Uni Heidelberg (antike Zauberzeichen)
- Post-Dok Projekt Neuedierung des London-Leidener magischen Papyrus (Heidelberg)
- DFG-Projekt Handbuch und Untersuchung antiker Zauberzeichen (Erfurt, Heidelberg)
Seit 2020 ist sie freiberuflich mit einem zweiten Forschungsschwerpunkt tätig: Das Potential von Archäologie und Kulturerbe in Kontexten der Nachhaltigkeitsziele (https://amatek.institute/)
Kirsten Dzwiza lebt nachhaltig, liebt die Scheibenweltromane und denkt gerne über den Ursprung des Universums und die menschliche Vorstellungskraft nach.
Ihr findet sie auf Academia, Twitter und Instagram.
Anmerkungen
[1] Zum Beispiel: https://www.materiale-textkulturen.de/teilprojekt.php?tp=A03&up=UP1
[2] https://defixiones.hypotheses.org/86
[3] https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/zaw/aegy/forschung/charakteres.html
[4] Die Projektseiten werden leider nur in Englisch zur Verfügung gestellt: https://www.coptic-magic.phil.uni-wuerzburg.de/
[5] Er wurde modern in zwei Teile geteilt, von denen der vordere Im British Museum (London) aufbewahrt wird, der hintere im Rijksmuseum van Oudheden (Leiden): https://www.britishmuseum.org/collection/object/Y_EA10070-2; https://www.rmo.nl/collectie/collectiezoeker/collectiestuk/?object=172306
[6] Zur Herstellung und Handhabung antiker magischer Artefakte siehe Kirsten Dzwiza, Schriftverwendung in antiker Ritualpraxis anhand der griechischen, demotischen und koptischen Praxisanleitungen des 1. – 7. Jahrhunderts, Bände I-IV, Heidelberg, Erfurt 2013. https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00023500
[7] PGM ist die Abkürzung für Papyri Graecae Magicae (Griechische magische Papyri), pdm für Papyri Demoticae Magicae (Demotische magische Papyri).
[8] In den antiken Zauberanleitungen wurden die Stellen, an denen der Name eines Menschen oder einer höheren Macht individuell ergänzt werden konnte, speziell gekennzeichnet. In der modernen Übersetzungspraxis schreiben wir dafür NN. Das steht für Latein nomen nominandum und bedeutet „zu benennender Name“.
[9] Kapitel 9 Der Halbblutprinz. In der Hardcoverausgabe von Carlsen aus dem Jahr 2005 auf Seite 188.
[10] https://www.uni-regensburg.de/bibliothek/granatapfel/darstellungen/dioscurides/index.html
[11] Für eine erste Übersicht siehe zum Beispiel https://www.uni-regensburg.de/bibliothek/granatapfel/darstellungen/dioscurides/index.html
[12] PGM IV, 2125-2139. Karl Preisendanz, Papyri Graecae Magicae – Die griechischen Zauberpapyri, Band 1, Leipzig, Berlin 1928, 137.
[13] Morton Smith, in: Hans Dieter Betz (Herausgeber), The Greek Magical Papyri in Translation, Chicago, London 1986, 75.
[14] PGM LVII = P.Mich.inv. 534, https://quod.lib.umich.edu/a/apis/x-2437/534R.TIF
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