Mythen multimedial. Modernste Antike in der Gegenwartskultur
Im kürzlich erschienen Sammelband Mythen multimedial. Modernste Antike in der Gegenwartskultur habe ich womöglich den wichtigsten Text geschrieben, zu dem mich die Musen je inspiriert haben.
In meinem Beitrag Mit Ariadnefaden durch ein phantastisches Labyrinth trage ich nämlich zunächst die bisherigen methodischen Überlegungen zur Antikenrezeption in der Phantastik zusammen, bevor ich darauf sowie auf meinen eigenen langjährigen Studien aufbauend einen Vorschlag zur Kategorisierung der vielfältigen Formen des Aufgreifens der antiken Welt in phantastischen Erzählungen erarbeite.
Ursprünglich wollte ich mit Hilfe des von mir entworfenen Systems einfach nur ein wenig Ordnung in die Masse meines Untersuchungsgegenstands bringen. Eher aus Versehen ist dabei aber ein Text entstanden, der auch für manche Schöpfer*innen phantastischer Erzählungen interessant sein könnte.
Aber kommen wir zunächst zum Sammelband Mythen multimedial.
Mythen multimedial. Modernste Antike in der Gegenwartskultur
Mythen medial ist ein von Markus Janka, Raimund Fichtel und Berkan Sariaydin herausgegebener Sammelband, der sich mit den derzeitig äußerst populären Adaptionen der griechisch-römischen Mythologie und Geschichte in der modernen Gegenwartskultur auseinandersetzt und als Grundlage für die interdisziplinäre Erforschung dieses Phänomens gedacht ist.
So gelang es dann den Herausgebern, einige namhafte internationale Expert*innen zusammenzubringen, die vom Comic über Assassin’s Creed Odyssey bis zu modernen Freizeitparks vielerlei spannende Themen besprechen, von denen wir in Zukunft sicherlich manche noch ausführlicher in diesem Blog vorstellen werden.
Leider erschließt sich aus dem Inhaltsverzeichnis nicht in allen Fällen, wovon die einzelnen Aufsätze konkret handeln, weshalb ich im Anschluss an den folgenden Auszug aus dem Buch, die Inhalte auf das Wesentliche zusammenfasse, bevor ich etwas ausführlicher auf meinen neuen Kategorisierungsvorschlag eingehen werde.
Mythen Multimedial_Titeleiur und InhaltsverzeichnisDie Beiträge des Sammelbands „Mythen multimedial“
Werke für Kinder und Jugendliche
Auf einleitende Überlegungen der drei Herausgeber folgt zunächst ein Themenkomplex, der sich auf plurimediale Antikenrezeption in Werken für Kinder und Jugendliche konzentriert. Zunächst beschäftigt sich in diesem Kontext Hans-Heino Ewers mit Michael Endes Unendliche Geschichte, bevor Katarzyna Marciniak Luis Sepúlvedas Roman Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte sowie dessen Filmadaption untersucht.
Im Anschluss rückt Bettina-Kümmerling-Meibauer die Rezeption einer Fabel Aesops ins Zentrum der Aufmerksamkeit, während Francis Foster den Roman Hades speaks aus der Reihe Secrets of the Ancient Gods vorstellt und sich Michael Stierstofer Gedanken über die Verwendung diverser Rezeptionen von Caesars Gallischem Krieg im Schulunterricht macht. Im letzten Beitrag dieses Themenkomplexes wirft Sonja Schreiner schließlich die Frage auf, inwiefern die antike Sklaverei in Werken, die sich an Kinder und Jugendliche richten, eine angemessene Behandlung finden kann.
Transformationen der Antike
Weiter geht es mit Transformationen der Antike in Text, Bild und Theater der Gegenwartsliteratur. Den Anfang macht erneut Michael Stierstorfer, der in diesem zweiten Beitrag aus seiner Feder Die Tribute von Panem thematisiert. Danach widmet sich Markus Hafner der Homer-Rezeption in Pat Barkers Die Stille der Frauen, bevor es bei Giovanna Alvoni um Valerio Massimo Manfredis L’armata perduta und eine weibliche Perspektive auf die Anabasis geht.
Berkan Sariaydin behandelt Walter Moers Die Stadt der träumenden Bücher, während Markus Janka die chorische Theatralität in antiken Texten und aktuellen Inszenierungen der Antike untersucht. Die Sinneinheit endet mit einem Beitrag von Raimund Fichtel über Jonathan Meese.
Wiedergeborene Antike
Im letzten Themenkomplex geht es schließlich um massenmediale Präsenzen der Antike in Reanimationen und Hybridmedien. Hier beginnt Heinz-Peter Preußer mit Überlegungen zur Frauenquote in der filmischen Antikenrezeption, bei denen u.a. Wonder Woman und Captain Marvel zum Tragen kommen, während Filippo Carla-Uhink und Florian Freitag antike Mythen in Themenparks vorstellen.
Es folgen meine Überlegungen zur Kategorisierung der Antikenrezeption (s.u.), bevor Patrick König den Sammelband mit einer Betrachtung der jeweiligen Rezeption von Herodot und Platon in Assassin’s Creed Odyssey ausklingen lässt.
Mit Ariadnefaden durch ein phantastisches Labyrinth
Wie bereits eingangs erwähnt habe ich mir die bisherigen methodischen Ansätze zur Untersuchung der Antikenrezeption in der Phantastik angeschaut und diese um die Ergebnisse meiner eigenen Studien erweitert. Herausgekommen sind die folgenden Punkte, auf Basis derer ich das zu untersuchende Material von nun an sortiere:
Strukturgebende Antikenrezeption
Unter einer strukturgebenden Antikenrezeption verstehe ich phantastische Erzählungen, die sich von ihrer Grundstruktur her am Aufbau einer antiken Geschichte orientieren. Oft halten sich moderne Werke dieser Kategorie nur relativ locker an ihre Vorlage. Manchmal kommt es aber auch zu einer erstaunlich engen Anlehnung.
Ein Beispiel für eine sehr lockere Anlehnung wäre etwa Isaac Asimovs Foundation-Zyklus, der den Untergang des Römischen Reiches in den Weltraum verlegt. Wesentlich enger an der Vorlage orientiert sich hingegen der Comic Ody-C: Off to far Ithicaa, der die homerische Odyssee in einer drogenrauschähnlichen Science-Fiction-Variante nacherzählt.
Rekonstruierende Antikenrezeption
Bei der rekonstruierenden Antikenrezeption geht es um Fälle, bei denen zumindest ein Teil der Handlung in der Antike selbst oder in virtuellen sowie alternativen Versionen der antiken Welt spielt. Gemein ist den Erzählungen dieser Kategorie, dass sie die antike Welt als solche rekonstruieren, sich die Protagonist*innen der Geschichte also in ihr bewegen.
Klassische Beispiele sind in diesem Kontext Zeitreisegeschichten oder virtuelle Welten wie in Tad Williams‘ Roman Otherland.
Kontrafaktische Antikenrezeption
Hier steht die kontrafaktische, virtuelle oder alternative Geschichte im Vordergrund. Erzählungen dieser Kategorie folgen einem antiken Mythos oder der antiken Geschichte bis zu einem gewissen Punkt, um dann mit dem bekannten Verlauf der Ereignisse zu brechen und völlig neue Wege einzuschlagen. Ein typisches Beispiel für solcherlei Gedankenspiele wäre etwa die Frage, wie unsere heutige Welt wohl aussähe, wenn Hannibal den zweiten Punischen Krieg gewonnen hätte und Rom nicht zu der Weltmacht geworden wäre, die es mehrere prägende Jahrhunderte lang war.
So spielt das Comic Rome West z.B. mit der Idee, dass einige römische Kriegsschiffe durch einen Sturm nach Amerika abgetrieben werden und dort mit American Natives ein zweites Römisches Reich errichten, was zu grundlegenden Veränderungen der uns bekannten Geschichte führt, da dieses westliche Rom zu stark ist, um nach der „Entdeckung“ Amerikas durch Columbus von europäischen Mächten unterworfen zu werden.
Punktuelle Antikenrezeption
In der punktuellen Antikenrezeption werden einzelne Personen, Wesen oder Institutionen der Antike übernommen und in eine phantastische Geschichte verpflanzt, die nicht in der Antike spielt. Dies ist z.B. häufiger im Horror-Genre der Fall, wenn mesopotamische Dämonen, ägyptische Mumien oder eine Gorgone ihr Unwesen in modernen Erzählungen treiben. Auch bei DC und Marvel treten einige Figuren als Helden oder Schurken wie z.B. Ares oder Gilgamesch auf, die eigentlich in die Antike gehören.
Kosmetische Antikenrezeption
Manchmal fällt ein Bezug zur Antike auch einfach etwas oberflächlicher aus. Das ist z.B. der Fall, wenn Raumschiffe ohne tieferen Sinn antike Namen tragen oder wenn Figuren von DC oder Marvel wie etwa Chronos oder Minn-Erva vom Namen her an antike Personen erinnern, ohne aber – anders als bei der punktuellen Antikenrezeption – wirklich mit diesen identisch zu sein.
Parallelisierende Antikenrezeption
Auch außerhalb der Phantastik ist es ein gängiges Phänomen, dass Aspekte der antiken Welt herangezogen werden, um als Vergleichsfolie für etwas zu dienen. Dies kann kleinere Abschnitte betreffen, sich manchmal aber auch auf die gesamte Geschichte beziehen.
Ein Beispiel für eine kleinere Parallelisierung wäre etwa, wenn der Kommandant einer Weltraumflotte als neuer Hannibal bezeichnet würde, um sein taktisches und strategisches Geschick zu unterstreichen. Von zentralerer Natur sind Fälle, bei denen die Parallelisierung wie bei Isaac Asimovs The Dead Past ganz erheblich zur Dramatik der Geschichte beiträgt.
Verschmelzende Antikenrezeption
Meine absolute Lieblingskategorie! Die Königsdisziplin! Hier geht es darum, dass eine phantastische Erzählung derart mit der Antike verschmilzt, dass sie sich zur Quelle ihrer antiken Vorlage erklärt oder sich erst durch sie Dinge ereignen, die zu dem führen, was in der antiken Vorlage steht. Das ist ganz großes Kino!
Ein schönes diesbezügliches Beipiel findet sich etwa in Dan Simmons‘ Ilium und Olympos.
Erfundene Antikenrezeption
Manche Erzählungen sind so kreativ, dass sie antike Texte, Personen oder Gegenstände erfinden, wobei die Kunst natürlich darin liegt, Dinge so zu erfinden, dass sie wirklich den Eindruck erwecken, aus der Antike zu stammen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Arthur Machens The Three Impostors (1895), da der Autor hier eine antike Quelle erfindet, die er nicht nur in englischer Übersetzung, sondern auch im lateinischen „Original“ wiedergibt!
Wissenschaftsbezogene Antikenrezeption
Gelegentlich werden auch Alte Geschichte, Klassische Philologie oder Archäologie als Wissenschaften in phantastische Erzählungen eingebaut, wobei dies in der Regel der Fall ist, wenn es sich bei den Protagonist*innen um Altertumswissenschaftler*innen handelt. Gute Beispiele sind in diesem Zusammenhang Isaac Asimovs The Dead Past und Dan Simmons‘ Ilium und Olympos, die sich jeweils auf beeindruckende Weise in die Materie eingearbeitet haben und erstaunlich tief in das jeweilige Thema eindringen.
Fazit
Mein Kategorisierungsvorschlag dient dazu, die enorme Masse des zur Verfügung stehenden Untersuchungsmaterials in Bezug auf die Antikenrezeption in der Phantastik zu strukturieren und sie dadurch übersichtlicher zu gestalten.
Gleichzeitig kann die mein Schema Autor*innen mit Interesse an Alter Geschichte (oder Geschichte im Allgemeinen) dazu inspirieren, mit Formen der Antikenrezeption herumzuexperimentieren, über sie sie bisher vielleicht noch gar nicht bewusst nachgedacht haben.
Dass ich in dieser Buchvorstellung den Schwerpunkt auf meinen eigenen Artikel gelegt habe, liegt darin begründet, dass er sozusagen eine Quintessenz meiner bisherigen Forschung darstellt und mir dementsprechend äußerst wichtig ist. Selbstverständlich sind aber auch die übrigen Beiträge des Mythen multimedial-Sammelbands absolut lesenswert, weshalb einigen von ihnen sicherlich noch in eigenen Beiträgen auf diesem Blog die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden wird.
Leider ist der Sammelband recht teuer, sodass es Privatpersonen sicherlich schwerfallen dürfte, Mythen multimedial für die häusliche Bibliothek anzuschaffen. Ich möchte daher diejenigen, die nicht über Universitätsbibliotheken kostenlosen Zugang zum Buch bzw. zur eBook-Variante haben, dazu ermuntern, den Sammelband über die örtliche Bibliothek als Fernleihe zu bestellen, was in der Regel nur wenige Euro kostet. Probiert das doch mal aus, denn das sind die vielen spannenden Beiträge meiner großartigen Kolleg*innen und Kollegen definitiv wert!
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