Anarchie Déco: Magie und Antike im Berlin der 1920er Jahre

Anarchie Déco – Ein kurzer Überblick

Bei „Anarchie Déco“ handelt es sich um einen 2021 erschienen Roman von Judith und Christian Vogt, der im Berlin des Jahres 1927 spielt. Bekanntlich stellen die ausgehenden 20er Jahre aus vielerlei Perspektiven eine durchaus spannende Zeit dar. So begegnen wir im Roman auf den Straßen Berlins u.a. Kommunisten, Nationalsozialisten und Anarchisten, während wir auch Einblicke in die damalige Welt der Wissenschaft, das illustre Nachtleben sowie die sehr unterschiedlichen Leben der High Society und der unteren Bevölkerungsschichten gewinnen.

Als ob dies alles nicht schon bunt, kompliziert und facettenreich genug wäre, ereignet sich in „Anarchie Déco“ etwas Unvorhergesehenes, das dem Ganzen noch die Krönung aufsetzt und – soviel sei verraten – den Lauf der Geschichte, wie wir ihn kennen, verändern wird.

Denn es stellt sich plötzlich heraus, dass es ein Phänomen gibt, dass man wohl am besten als „Magie“ beschreibt. Diese Magie wird natürlich schnell für Unterhaltungszwecke eingesetzt, zieht aber auch in Universitäten und Labore ein, wo sie nach allen Regeln der Wissenschaft erzeugt und untersucht wird. Hinzu kommt, dass ein kommunistischer Funktionär und eine Vermieterin mit Magie getötet werden, wobei zunächst unklar bleibt, was sich hinter diesen Morden verbirgt, und sogar die Rede von einem Golem ist, der in Berlin sein Unwesen treibe …

Die junge Physikerin Nike Wehner promoviert nicht nur über diese neuentdeckte Magie, sondern berät als Expertin auch die Berliner Polizei bei ihren Untersuchungen der mit diesem Phänomen verbundenen Verbrechen. Dabei steht ihr der Prager Bildhauer und Anarchist Sandor Černý zur Seite, da die Erzeugung von Magie ein Zusammenspiel aus Wissenschaft und Kunst darstellt.

Das Berlin des Jahres 1927 und die Antike

Auch wenn „Anarchie Déco“ in erster Linie natürlich Leben, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Architektur der ausgehenden 1920er Jahre rezipiert, schleicht sich hier und da auch ein wenig Antikenrezeption ein. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass der Architektur im Roman eine gewisse Bedeutung zukommt, weshalb gelegentlich der Neoklassizismus und damit verbunden auch Karyatiden1 angesprochen werden. Im Rahmen von Kunstobjekten ist auch die Rede von griechischen und römischen Statuen.

Da die Protagonistin Nike über ihre Mutter ägyptischer Abstammung ist, finden sich gelegentlich auch Bezüge zu Ägypten, archäologischen Ausgrabungen und Raubkunst. Dass der Name der Doktorandin von der griechischen Siegesgöttin abgeleitet ist, wird in „Anarchie Déco“ explizit angesprochen (S. 134), weist aber keine tiefere Bedeutung auf.

Auch über das Themenfeld „Magie“ gibt es einzelne Rückblicke in die Antike bzw. in das Altertum. So ist die Rede vom ägyptischen Gott Toth als Herr über Wissenschaft und Magie, den griechischen Hermetikern sowie den römischen Auguren als frühe Vorgänger der nun die Magie erkundenden Menschen (S. 134).

Bis zu diesem Punkt handelt es sich um kleinere Bezüge, die sicherlich keinen eigenen Artikel über diesen Roman notwendig gemacht hätten. Doch kommen ein paar weitere Aspekte hinzu, die mir durchaus interessant erscheinen und die eine genauere Betrachtung verdienen.

Ich möchte darauf hinweisen, dass in den folgenden Detailbetrachtungen zum Teil Spoiler vorkommen, wobei ich mich bemüht habe, diese möglichst allgemein zu halten. Wer „Anarchie Déco“ noch lesen möchte, sollte an dieser Stelle also ggf. eine Pause einlegen und nach der Lektüre zurückkehren.

Anarchie Deco Karyatide
Karyatide (Photo: Michael Kleu)

Attraktive lebendige Statuen – Pygmalion 1927?

Gleich zu Beginn der Erzählung besuchen Nike und Sandor eine nicht gänzlich legale Aufführung, bei der Nikes Kollegin Erika mit Hilfe von Magie eine Karyatide dazu bringt, sich zu bewegen, sie also in gewisser Hinsicht vorübergehen lebendig werden lässt. Dieses Kunststück wird vor einem kleinen, aber sehr ausgelassenen Publikum vorgeführt, sodass bald schon „Ausziehen“-Rufe ertönen und Männer und Frauen gierig nach den Brüsten und anderen Körperteilen der Statue greifen, deren Beschreibung auf ein recht attraktives Äußeres schließen lässt (S. 56-62).

Bei weiblichen Statuen, die eine gewisse Attraktivität aufweisen und schließlich lebendig werden, kommt einem althistorisch geprägten Publikum schnell Pygmalion in den Sinn, der eigentlich kein Interesse an Frauen hatte, dann aber unbeabsichtigt eine Statue von solcher Schönheit erschuf, dass er sich in sie verliebte und sie heiratete, nachdem Aphrodite ihr Leben eingehaucht hatte. (Diese und ähnliche Erzählungen könnt ihr in diesem Beitrag von mir ausführlicher nachlesen.)

Auf Nachfrage sagten mir Judith und Christian Vogt, dass sie bei dieser Szene nicht an Pygamlion dachten, wobei sie nicht ausschließen können, dass sie vielleicht unbewusst von anderen popkulturellen Rezeptionen seiner Geschichte beeinflusst waren. Tatsächlich haben Pygmalion und seine Statue zahlreiche moderne Werke inspiriert, sodass sich die zugrundeliegende Idee der lebendig werdenden Statue in der Popkultur längst verselbständigt hat.2

Große Träume brauchen ihren Platz!

In „Anarchie Déco“ stellt sich gegen Ende der Handlung heraus, dass Teile Berlins im großen Stil mithilfe der Magie zerstört bzw. freigeräumt werden sollen, um Platz für ein megalomanisches Bauprojekt zu schaffen.

Hier zeigt sich deutlich eine Parallele zu Kaiser Nero, dem – womöglich zu Unrecht – nachgesagt wird, er habe in Rom Feuer gelegt, um es dann nach seinen Vorstellungen neuaufbauen zu können. Aufgrund des deutlichen Rom-Bezugs, den das literarische Schaffen von Judith Vogt auszeichnet, kann man sicherlich davon ausgehen, dass Nero bewusst oder unbewusst als grobe Vorlage fungierte.3

Zu Stein erstarrt – Auch Medusa ist dabei

Wie wir eingangs schon erfahren haben, erwachen in „Anarchie Déco“ nicht nur diverse Statuen vorübergehend zum Leben, sondern es werden auch lebendige Menschen versteinert und somit dauerhaft in Statuen verwandelt. Auch dies geschieht natürlich in Form von Magie, doch benötigt diese im Roman neben gewissen technischen Vorrichtungen immer auch ein bisschen Kunst. Und was bietet sich wohl besser an, um unliebsame Menschen in Stein zu verwandeln, als der Kopf einer Medusa, der via Magie kurzfristig „funktionstüchtig“ gemacht wird?

Anarchie Deco
Photo: Michael Kleu

Kein Höhlengleichnis ohne Platon!

Die bisherige Besprechung sollte deutlich gemacht haben, dass die Magie in „Anarchie Déco“ nicht wie in klassischen Fantasy-Erzählungen funktioniert, sondern in einem Zusammenhang mit Technik, Kunst und Wissenschaft steht. Dementsprechend bedarf es für die Leser*innen verschiedener Erläuterungen über das Wesen dieser Magie.

Zunächst erfahren wir in diesem Zusammenhang aus dem Munde Erikas (S. 55):

»Ihr müsst wissen, meine Lieben: Magie, Physik, Kunst …
das ist alles ein und dasselbe. Ja, das klingt unlogisch.«

[…]

»Wenn wir die fundamentalen, mikroskopischen Bausteine der Materie untersuchen, sehen wir nie das Ding an sich, denn unsere Sinne sind zu grob, um es zu erfassen. Das Einzige, was wir Höhlenmenschen tun können, ist es, die Gegenstände aus unterschiedlichen Richtungen zu beleuchten
und ihre Schatten an der Wand zu betrachten. Und wie anders
die Schatten eines Körpers aussehen, der aus verschiedenen
Winkeln angestrahlt wird!«

[…]

»Nehmen wir Bohrs und Heisenbergs Deutung der Quantenmechanik: Die Bausteine der Schöpfung sind etwas, das
manchmal die Eigenschaften von Wellen besitzt und manchmal
die von Teilchen. Je nach Blickwinkel nehmen wir den Schatten,
den sie werfen, als Teilchen oder als Welle wahr, aber das
eigentliche Ding werden wir wohl nie erfassen können.«

Wenn die Rede von Höhlenmenschen ist, die lediglich Schatten an den Wänden betrachten, ohne das eigentliche Wesen der Dinge erfassen zu können, ist von den Begrifflichkeiten und den Gedanken her klar, dass hier ein Bezug zu Platons Höhlengleichnis vorliegt, auch wenn der Name des griechischen Philosophen an dieser Stelle nicht explizit genannt wird.

Im weiteren Verlauf bestätigt sich dies, wenn im Kontext der Magie von der „Idee“ einer Hand (S. 57 & 97), eines Gesichts (S. 97f.), eines Kolibris (S. 197) oder von einem Körper, der einem überirdischen Ideal entspricht (S. 117), die Rede ist.

Auf S. 403 wird es dann schließlich konkret gesagt:

Die Fingernägel, Sehnen, Adern traten hinter die platonische
Idealvorstellung einer Hand zurück.

Die zitierten und paraphrasierten Stellen belegen in ihrer Gesamtheit also eindeutig eine Rezeption des platonischen Höhlengleichnisses.

Abschließende Gedanken zu „Anarchie Déco“

Die Antikenrezeption steht bei „Anarchie Déco“ keineswegs im Vordergrund und vollzieht sich eher beiläufig durch kleinere Bemerkungen oder indirekt über Themengebiete wie die Architektur. Auch der Medusa-Kopf ist innerhalb der Erzählung alles andere als von zentraler Bedeutung. Für Platons Höhlengleichnis ergibt sich im Vergleich eine etwas umfangreichere Rezeption, doch bleibt auch diese letztlich so unaufdringlich, dass einige Leser*innen sie sicherlich gar nicht zur Kenntnis nehmen werden.

Spannend ist die grobe Parallele zu Pygamlion, da diese von Judith und Christian Vogt nicht bewusst gezogen wurde, aber zumindest theoretisch unbewusst von anderen Pygmalion-Rezeptionen beeinflusst sein könnte. Selbst, wenn auch letzteres nicht zutreffen sollte, läge immer noch das interessante Phänomen vor, dass eine Erzählung an eine andere erinnern kann, ohne in einem direkten oder indirekten Bezug zu dieser zu stehen.

Insgesamt betrachtet weist „Anarchie Déco“ keine größere oder umfassende Antikenrezeption auf, zeigt aber in der Summe der bewussten und unbewussten Bezüge und Ähnlichkeiten sehr schön, wie – wenn auch auf unscheinbare Art und Weise – präsent die Antike sein kann, selbst wenn es eigentlich um das Berlin des Jahres 1927 geht.

Michael Kleu

Anmerkungen

  1. Bei Karyatiden handelt es sich um Skulpturen, die Frauen nachbilden und in der Architektur als Säulen oder Pfeiler verwendet werden, also in Bezug auf die Statik eine stützende Funktion ausfüllen.
  2. Vergleiche hierzu etwa Paula James: Ovid’s Myth of Pygmalion on Screen: in Pursuit of the Perfect Woman (Continuum studies in classical reception), London/New York 2011. Ein besonders populäres Beispiel einer zum Leben erwachten weiblichen Statue stellt sicherlich die Freiheitsstatue in „Ghost Busters 2“ dar.
  3. Zu Judith Vogts Veröffentlichungen mit klarem Rom-Bezug zählen historische Romane (Schwertbrüder & Verbranntes Land) sowie Werke der Fantasy (Herr der Legionen & Herrin des Schwarms) und der Science Fiction (Roma Nova), die eindeutig Rom zur Vorlage nehmen.

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