Veröffentlicht: 14. April 2019 – Letzte Aktualisierung: 4. September 2020
Es ist ein zunehmend auftretendes Erfolgsrezept, antike Geschichten oder Erzählungen in angepasster Form in eine Science Fiction-Welt zu übertragen. Wenn eine Story seit 2.000 bis 3.000 Jahren funktioniert, ist die Wahrscheinlichkeit schließlich sehr groß, dass sie auch heute noch auf interessierte Rezipienten stößt. Besonders hoch ist diese Wahrscheinlichkeit natürlich, wenn man sich die „Odyssee“ als Vorlage nimmt, deren gewaltige Wirkungskraft auf unzählige Erzählungen späterer Zeiten kaum überschätzt werden kann, was noch einmal gesteigert wird, wenn man ihre Schwestererzählung, die „Ilias“ mit in die Betrachtungen einbezieht. Als ausgewählte prominente Beispiele seien in diesem Kontext James Joyces „Ulysses„, der Asterix-Band „Die Odyssee“ (L’Odyssée d’Astérix) oder „O Brother, Where Art Though“ der Coen-Brüder genannt. Dabei kann die Form der Rezeption von einer sehr lockeren Anlehnung bis zu einer äußerst engen Nacherzählung reichen.[1]
Das heute zu besprechende Comic „Ody-C – Of to far Ithicaa“ ist diesbezüglich ein sehr besonderes Beispiel, da es einerseits mit Absicht gewisse Änderungen durchführt, sich dabei aber gleichzeitig auch wieder sehr eng an der homerischen Vorlage orientiert. So soll das noch nicht vollständig erschienene Gesamtwerk letztlich in Anlehnung an die 24 Gesänge der „Odyssee“ (und der „Ilias“) aus ebenso vielen Heften bestehen. Auch sind viele der Hefte entsprechend des altgriechischen Originals im daktylischen Hexameter verfasst. Der Clou liegt aber darin, dass Autor Matt Fraction die Erzählung nicht nur in den Weltraum verlegt hat, sondern dabei auch sehr stark mit den Geschlechtern der Charaktere spielt. Denn wir befinden uns in einer Welt, in der „father-mother“ bzw. „all-mother“ Zeus alle Männer vernichtet hat, um weniger Sorge vor gegen ihn/sie gerichtete Aufstände haben zu müssen. Doch aus gewissen Gründen wird nach 1.000 männerlosen Jahren doch ein männliches Kind geboren – He -, das dann gleich einen gewaltigen Krieg um den Planteten Troiia VII auslöst. He ist also die männliche Version der homerischen Helena. Dass der Krieg ausgrechnet auf Troja VII und nicht auf III oder XII stattfindet, ist eine Anspielung darauf, dass die historischen Hintergründe des Trojanischen Krieges in die Zeit eingeordnet werden, deren Überreste in der archäologischen Ausgrabungsschicht Troja VII liegen.[2]
Die Idee, die „Odysee“ in einem weitgehend männerfreien Universum spielen zu lassen, ist daraus hervorgegangen, dass Matt Fraction ursprünglich sehen wollte, wie sich die Geschichte verändert, wenn man die Geschlechter vertauscht. Wie etwa wirken die lästig-aufdringlichen Freier der Penelope, wenn es sich bei ihnen nicht um Männer, sondern um Frauen handelt? Bald hatte Fraction jedoch eingesehen, dass ein bloßer Geschlechtertausch nicht radikal genug ist, weshalb er sich dazu entschloss, Zeus sämtliche Männer vernichten zu lassen.[3] Daher sind nun alle Helden wie Odysseus, Agamemnon, Menelaos etc. Frauen, deren Partner sogenannte Sebex sind, die einem dritten Geschlecht entstammen. Denn nachdem Zeus die Männer ausgelöscht und die Kreation neuer Männer verboten hatte, entschied sich seine/ihre Tochter Promethene (Prometheus) dazu, die Vorgaben der „mother-father“-Gottheit zu umgehen, indem sie Geschöpfe erschuf, die weibliche Eizellen in ihren eigenen Körper aufnehmen können, um diese dann zu befruchten und auszutragen. Durch die Geschlechterwechsel ist es teilweise schwer zu sagen, wer nun eigentlich welches Geschlecht hat. So ist Hera zwar körperlich ganz klar eine Frau, doch trägt sie einen wallenden Bart. Athene hingegen könnte ein Mann sein (vgl. Abb. 3). Wie leicht anhand der Darstellung des He (Helena) in Abb. 2 sowie an diversen weiteren Szenen zu erkennen ist, eignet sich das Comic nicht für eine jüngere Leserschaft.
Bisher ist nur der erste Zyklus erschienen, der die Bände 1 bis 12 umfasst. Die ersten 5 Bände des ersten Zyklus erzählen die Geschichte der Odyssia (also Odysseus), die nach der Eroberung von Troiia VII zurück nach Ithicaa (Ithaka) möchte, während die Bände 6-10 die Erlebnisse von Ene (Menelaos) und He (Helena) nachzeichnen. Die Bände 11-12 handeln schließlich von Gamem (Agamemnon) und dem Untergang des Hauses Atreus. Ab Band 6 verlassen wir also die „Odyssee“ und wenden uns anderen antiken Quellen zu. Zyklus 2 soll demselben Aufbau (5-5-2) folgen, sodass die ersten fünf Bände wieder die „Odyssee“ adapieren. Der Beginn von Band 1 entspricht dem Anfang der „Odysse“, in dem wie auch bei der „Ilias“ die Muse angerufen wird (vgl. Abb. 4).
Die gewaltigen von Christian Ward gezeichneten Bilder, die sich bewusst am Stil europäischer Comics der 70er Jahre orientieren, setzen das recht spektakuläre Unterfangen gekonnt in eine bunte Darstellung um. Dabei werden viele Kreisformen verwendet, um das weibliche Element zu unterstreichen, während die Darstellungen grundsätzlich auch immer ein bisschen an Unterwasserwelten erinnern sollen, um die Bedeutung des Meeres für die „Odyssee“ auf das Comic zu übertragen. Ausgehend von der Idee, dass klassische Raketen als Phallussymbole eher männlich besetzt sind, ist die Ody-C, das Schiff der Odyssia, von ihrer Form her an weiblichen Fortpflanzungsorganen orientiert (vgl. Abb. 5). Odyssia selbst ist bewusst ethnisch undefinierbar gehalten, um möglichst viel Identifikationspotential zu bieten.[4] Die Rüstung der Odyssia ist eine futuristische Adaption klassischer griechischer Rüstungen (vgl. Abb. 1).
Der grobe Ablauf der Erzählung entspricht dem der „Odyssee“. Zuerst finden wir Odyssia und andere Kriegerköniginnen, die siegreich für Achaea (die Achaier) gekämpft haben, auf Troiia VII, wo sie voneinander Abschied nehmen und in ihre jeweilige Heimat aufbrechen. Im Fall der Odyssia ist dies natürlich Ithicaa (Ithaka), wo die Sebex Penelope und ihr Sohn Telem (Telemachos) auf sie warten. (Nach He ist eine gewisse Zahl weiterer Männer geboren worden.) Zunächst stößt Odyssia dabei auf die Ciconen (die thrakischen Kikonen), die im Krieg auf Seiten von Troiia VII gestanden hatten, bevor sie sich zur Zerstreuung auf die Welt der Lotophagen zurückzieht. Dann stürzt die Ody-C auf dem Planeten Kylos ab, wo die Besatzung auf die Kyklopin Polyphem stößt. Dieser Erzählstrang ist außergewöhnlich lang, was sicherlich mit der enormen Popularität der Polyphem-Episode zusammenhängt. Auf Aeolia treffen Odyssia und ihre Frauen schließlich den Windgott Aeolus (Aiolos) und seine Nymphets (Nymphen). Lediglich eine Episode um einen Tempel des Apollon wird im Comic anders angeordnet. Unterbrochen werden die Abenteuer der Odyssia immer wieder von Ereignissen aus der Welt der (Götter? und) Göttinnen, die wie auch im griechischen Original wiederholt in das Geschehen eingreifen. In modernen Adaptionen homerischer Werke wird die Welt der Götter oft weitestgehend (Ulisse 1954) oder gar gänzlich (Troy 2004) ausgeklammert, wofür es verschiedene Gründe gibt. Im vorliegenden Comic passt die Welt der Götter jedenfalls bestens in die Erzählung und kommt der homerischen Vorlage diesbezüglich wesentlich näher als weniger phantastische Werke. (Natürlich muss man dazusagen, dass es das Comic vermutlich wesentlich leichter hat, Götter einzubauen, wirken diese in Filmen doch häufig ein wenig peinlich.)
Im nächsten Zyklus müssten also noch die Laistrygonen, Kirke, die Sirenen, Skylla & Charybdis, Helios, Kalypso und die Phäaken auftreten. Zyklus 2 sollte eigentlich bereits Ende 2017 beginnen, was bisher jedoch noch nicht der Fall gewesen ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichte noch zu Ende erzählt wird. Mittlerweile sind die ersten 5 Bände jedenfalls im hier besprochenen Sammelband „Off to far Ithicaa“ erschienen. Die Bände 6 bis 10 finden sich im Sammelband „Sons of the Wolf“, der in Kürze besprochen werden wird.
Wie wir gesehen haben, versetzt „Ody-C“ die „Odyssee“ in ein ganz anderes Setting, bleibt ihr aber doch in vielerlei Hinsicht treu. Eine abschließende Bewertung kann wohl erst erfolgen, wenn alle Bände der Reihe erschienen sind.
[1] Zur gewaltigen Prägekraft der „Odyssee“ vgl. auch meine Überlegungen, die ich anlässlich der Kölner Tagung „Von Homer bis Assassin’s Creed – Spielarten (mit) der Odyssee: Erzählt – Gespielt – Gelesen – Diskutiert“ angestellt habe.
[2] Troja I bis VI entsprechen Ausgrabungsschichten, die aus früheren Zeiten der trojanischen Stadtgeschichte stammen.
[3] In der englischen Wikipedia werden verschiedene Interviews mit Matt Fraction und Christian Ward auf das Wesentliche zusammengefasst. Hier findet sich auch eine Auflistung der verwendeten Quellen und der stilistischen Vorlagen.
[4] Vgl. den Link in Anm. 3.
- Römische Blutsauger: Tote beißen nicht (Libri I-III) - 29. November 2024
- Die Bibliothek von Alexandria in „The Atlas Six“ - 28. Oktober 2024
- [Fantastische Antike – Der Podcast] Progressive Phantastik - 21. September 2024
Danke für diese Vorstellung, Michael! Mich faszinieren schon die Bilder, diese Art der Zeichnungen und Koloration mag ich sehr. Inhaltlich ist es auch spannend und ich gehe davon aus, dass sich beides gut zusammenfügt. Kommt auf meine Merkliste!
Liebe Grüße
Sandra
Super! Freut mich, dass es Dir gefällt!
😉
Viele Grüße
Michael