Mythaloria – Das antike Griechenland in der Postapokalypse

Mythaloria

Mythaloria ist ein 2023 erschienenes Pen-&-Paper-Rollenspiel aus der Feder von Nikolas Tsamourtzis, das das antike Griechenland als lockere Vorlage für ein postapokalyptisches Szenario verwendet. Das Buch bietet uns neben dem Regelwerk (inklusive Charakterbögen etc.) einen ersten Einblick in die Spielwelt sowie ein vorgefertigtes Abenteuer.

Die Hintergrundgeschichte: Der Sündenfall

Wir erfahren, dass einst eine Muttergöttin namens Mytha gemeinsam mit weiteren Gottheiten in der Welt Arkada für paradiesische Zustände sorgte und im Gegenzug erwartete, dass ihre Regeln eingehalten würden. Doch unter manchen Gläubigen entwickelte sich zunehmend Unmut, da sie nicht mehr bereit waren, den Gottheiten zu dienen. Schließlich kam es zum offenen Konflikt, der dazu führte, dass Mytha ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden weite Teile Arkadas verwüstete. Ein Teil der Opfer suchte daraufhin Hilfe bei Wesen aus einer Welt jenseits der Realität, was zu noch größerer Zerstörung führte.

Nach dem fürchterlichen Krieg verließen sowohl Mytha und die ihr zugehörigen Gottheiten als auch die Wesen aus der anderen Realität Arkada, sodass die Überlebenden fortan auf sich alleine gestellt waren. Da aufgrund der schrecklichen Vernichtung für einen längeren Zeitraum nicht mehr an Landwirtschaft zu denken war, siedelten sich manche Stämme in der Küstenregion Eníkien sowie auf den in der Nähe gelegenen Inseln an, um sich fortan über das Meer zu ernähren.

Diese als „Sündenfall“ bezeichnete Vorgeschichte überliefern heiligen Schriften der Eníkischen Kirche, die sogenannten Mythaloria.

Die Khaí – Die alten Gottheiten und ihre Religion

Laut den Lehren der Eníkischen Kirche werden Mytha und die übrigen Gottheiten – genannt Khaí – wieder nach Arkada zurückkehren, wenn die Gläubigen ihnen wieder in ausreichendem Maße treu sind. Im Laufe der Zeit ist die Kirche der alten Gottheiten derart mächtig geworden, dass sie die Politik der Stadtstaaten dominiert. Das Kirchenoberhaupt wird auf Lebenszeit gewählt und muss entweder weiblich oder mehrgeschlechtlich sein.

Wie in vielen anderen Religionen oder Mythologien gibt es auch im arkadischen Pantheon1 zahlreiche Gottheiten, Halbgottheiten und Heilige. Im Vordergrund stehen jedoch 10 größtenteils weibliche Gottheiten, die jeweils für bestimmte Domänen wie zum Beispiel Heilung und Tod oder Schmiedekunst, Bergbau und Strafvollzug zuständig sind. In der Regel verfügt jeder Haushalt über einen Schrein oder eine Ikone der bevorzugten Khaí sowie der Muttergöttin Mytha.

Auch die Talokh, die bereits angesprochenen Wesen aus der anderen Realität, setzen sich aus verschiedenen Kategorien zusammen. Ganz oben stehen die sieben Talokhfürstinnen, die ebenfalls über unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche verfügen, doch existieren auch niedere Talokh.

Bei der Heimat der Talokh handelt es sich um einen metaphysischen Raum, der Rhazhasuna genannt wird und in dem die Naturgesetze Arkadas keine Gültigkeit besitzen. Während es einem Teil der Sterblichen möglich ist, manche Gebiete Rhazhasunas aufzusuchen, vermögen auch die Talokh nach Arkada zu gelangen, z.B. indem sie die Körper kürzlich verstorbener Wesen übernehmen.

Nikolas Tsamourtzis und seine Kolleg:innen auf der FeenCon 2023 in Bonn (Photo: Hati)

Eníkien und seine Gesellschaft

Jahrhunderte später begannen sich die Böden zu erholen, sodass die Wiedereinführung der Landwirtschaft das Entstehen mehrerer Stadtstaaten ermöglichte. Diese weiteten ihren Einfluss im Laufe der Zeit auf die Inseln aus. Hinzu kam, dass in manchen Stadtstaaten die Kirche große Macht erlangte und den Glauben an die alten Gottheiten forcierte, während man in anderen Stadtstaaten wieder die Wesen aus der anderen Realität anbetete. Daher bildeten sich verschiedene Machtblöcke, was langfristig zu einem Konflikt zwischen vier mächtigen Stadtstaaten führte.

Die Gesellschaft Eníkiens wird von Frauen geleitet und durch einen Senat regiert. So stehen Frauen sowohl in der Politik als auch innerhalb der Familien im Vordergrund, u.a. weil ihnen ein größeres Verständnis für die Finanzen zugesprochen wird. Möchte ein Mann außerhalb seiner Familie einer Arbeit nachgehen, bedarf er dafür die Erlaubnis seines weiblichen Familienoberhauptes.

Ein Kastensystem teilt die Einwohner*innen per Geburt in sechs verschiedene Stände ein, wobei sich die Zugehörigkeit im Laufe eines Lebens durch Besitz und Wohlstand verändern kann. Ganz unten stehen in diesem System die Ilos, die leiblichen Nachfahren derjenigen, die sich einst gegen die Muttergöttin Mytha erhoben hatten. Die Ilos sind de facto Sklaven, die rechtlich als Sachgegenstände zählen. Wenn jemand fremde Ilos verletzt, muss er oder sie dementsprechend den Besitzer*innen Schadensersatz leisten, aber keine weiteren strafrechtlichen Konsequenzen befürchten. Allerdings kann eine Anzeige erfolgen, wenn Ilos von ihren Besitzer*innen über Gebühr misshandelt werden.

Késtia und der Késtische Bund

Der in der gleichnamigen Landschaft gelegene Stadtstaat Késtia stellt einen der zentralen geographischen Räume Arkadas dar. Am Ylónischen Golf gelegen wuchs Késtia schnell zu einer mächtigen Handelsstadt mit einer gewaltigen Hafenanlage heran, deren Flotte den Ylónischen Golf dominiert. So gelang es dem Stadtstaat im Laufe der Zeit, die Vorherrschaft über benachbarte Regionen zu erringen, und sich mit diesen im Késtischen Bund zusammenzuschließen.

In der gesamten Landschaft Késtia leben etwa 400.000 Einwohner*innen, von denen rund 150.000 im urbanen Zentrum angesiedelt sind. Das politische Zentrum bildet der Marktplatz, der nicht nur dem Handel, sondern auch dem Meinungsaustausch dient. Zu Késtia zählen auch Tekodhéa, der Austragungsort der Eníkischen Spiele sowie die Insel Iléra, die den Hauptsitz der Eníkischen Kirche beherbergt.

Sehr interessant erscheint, dass die verschiedenen Spezies, die Arkada bevölkern, nicht wie in klassischen Rollenspielen jeweils eigene gesellschaftliche oder politische Einheiten bilden. Vielmehr leben in Késtia Angehörige sämtlicher Spezies Arkadas, was ebenso für die anderen Regionen gilt.

Kreaturen

Von den im Mythaloria-Regelwerk vorgestellten Kreaturen weisen einzig die Sirenen einen deutlichen Antikenbezug auf. Da das Bestiarium sehr knapp ausfällt, ist wohl davon auszugehen, dass in späteren Ergänzungen weitere Kreaturen eingeführt werden.

Die Antikenrezeption in Mythaloria

Mytha, die Khaí und Mythaloria

Der Begriff Mythaloria leitet sich innerhalb der Spielwelt von der Muttergöttin Mytha ab, dürfte aber außerdem einerseits auf das Wort Mythologie und andererseits auf Lore zurückzuführen sein, womit in Rollenspielen aber auch in anderen Medien das gesammelte Hintergrundwissen zu einer fiktiven Welt bezeichnet wird.

Mytha und die übrigen Khaí entsprechen einem typischen Pantheon antiker Religionen, wobei die Gottheiten und ihre jeweiligen Zuständigkeitsbereiche sich jedoch angenehm deutlich von den antiken Vorlagen unterscheiden. Abgesehen davon, dass weibliche Gottheiten im Vordergrund stehen, ist außerdem auffällig, dass es 10 Hauptgottheiten gibt, während das griechisch-römische Pantheon diesbezüglich die klassische Zahl 12 verwendet.

Die Muttergöttin Mytha erinnert an eine Mischung aus Gaia, Zeus und Hera. Mit der mächtigen Kirche kommt ein Element hinzu, dass die christliche Religion und ihre Bedeutung in Spätantike und Mittelalter denken lässt.

Die häuslichen Schreine ähneln denjenigen, die es im alten Rom für die Schutzgeister der Familie gab (Laren und Penaten), wobei in Késtia die allgemeinen Gottheiten auf diese Weise verehrt werden. Ikonen entsprechen den bis heute üblichen Gepflogenheiten der orthodoxen christlichen Glaubensrichtungen.

Mythaloria Regelwerk
Das Mythaloria-Regelwerk (Photo: Michael Kleu)

Arkada und der Sündenfall

Dass die Welt den Namen Arkada trägt, ist sicherlich als Anspielung auf die griechische Landschaft Arkadien zu verstehen, der im Mythos die Rolle eines Hirtenparadieses bzw. eines verlorenen Goldenen Zeitalters zukommt.

Der im Regelwerk explizit als Sündenfall bezeichnete Abfall von den alten Gottheiten, der zur Vernichtung Arkadas führte, erinnert an die Deukalionische Flut, den Untergang von Atlantis sowie natürlich besonders auch an die Vertreibung aus dem Paradies, wie sie im Ersten Testament beschrieben steht.

Ein phantastisches Athen: Késtia

Késtia erinnert in einer derartigen Deutlichkeit an das klassische Athen, dass jede Zufälligkeit auszuschließen ist. Dies zeigt sich an der Rolle als Handels- und Seemacht, wobei der Késtische Bund dem Attischen Seebund entspricht. Letzterer verfügte ursprünglich über ein zentrales Heiligtum – einen Tempel des Apollon – auf der Insel Delos, während sich in Késtia der  Hauptsitz der Eníkischen Kirche auf der Insel Iléra befindet. Auch die Einwohnerzahlen entsprechen in etwa denen Attikas und Athens.

Wie in Késtia spielte auch im klassischen Athen der Marktplatz (Agora) eine besondere Bedeutung in Bezug auf den politischen Meinungsaustausch. Abweichend vom demokratischen Athen wird Késtia jedoch von einem Senat regiert, was sicherlich damit zusammenhängt, dass dieses Element der römischen Geschichte besser zur von Reichen dominierten Gesellschaftsform Késtias passt als eine demokratische Volksversammlung. Hinzu kommt, dass der Begriff Senat im Deutschen wesentlich geläufiger sein dürfte als ähnliche griechische Varianten wie der Areopag (ursprünglicher oberster Rat Athens) oder die spartanische Gerousia (Ältestenrat).

Im klassischen Athen war die Politik den Männern vorbehalten, in Késtia stehen hingegen die Frauen im Vordergrund. Autor Nikolas Tsamourtzis hat an dieser Stelle also die Geschlechterrollen ausgetauscht, wobei es sein könnte, dass hier auch eine Anspielung auf die Frauen in Sparta vorliegt. Denn da die spartanischen Männer viel Zeit mit ihren militärischen Übungen verbrachten, könnte es sein, dass Spartanerinnen politisch und wirtschaftlich ungewöhnlich einflussreich gewesen sind, was aber durchaus umstritten ist.

Sicher ist hingegen, dass die Behandlung der Ilos dem Umgang mit Sklaven in Athen entspricht. Denn auch hier galten Sklaven als Sachgegenstände für deren Beschädigung Schadensersatz zu zahlen war, während Außenstehende Sklavenbesitzer*innen wegen heftiger Misshandlungen anzeigen konnten.

Weitere Bezüge zur griechischen Antike

Die Eníkischen Spiele erinnern sicherlich nicht zufällig an die Olympischen Spiele, während die Sirenen wie gesagt die einzigen Wesen des Bestiariums sind, die antik inspiriert sind. Hinzu kommen mehrere Namen und Ortsbezeichnungen, die griechisch oder pseudo-griechisch klingen.

Das Regelwerk thematisiert es nicht, doch zeigen das Cover sowie eine Illustration innerhalb des Buchs eine Stadt, deren Architektur eindeutig griechisch geprägt ist. Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass die Karte, die im Regelwerk (S.14) die Spielwelt abbildet, instinktiv ein wenig an die Ostküste Griechenlands denken lässt, ohne aber deckungsgleich mit ihr zu sein.

Spannend erscheint noch ein Hinweis des Autors Nikolas Tsamourtzis zu Beginn des Regelwerks. Denn hier schreibt er auf Seite3, Mythaloria setze „seinen Schwerpunkt auf eine organische Weiterentwicklung der eigenen Spielfiguren – sowohl in ihrem Können als auch in ihren psychischen Eigenschaften – ganz im Stile antiker Epen.“2

Fazit

Interessanterweise spielt Mythaloria zwar in einer phantastischen Welt, in der auch Magie und Regionen jenseits der Realität existieren, doch orientiert sich die Hintergrundgeschichte nichtsdestotrotz primär an dem realen Griechenland der klassischen Zeit und kaum an der griechischen Mythologie. Ergänzt werden die Bezüge zu Griechenland durch kleinere Verweise auf Rom sowie auf die christliche Kirche.

Positiv fällt außerdem auf, dass die antiken Vorlagen zwar deutlich zu erkennen sind, die Gesamtheit der Spielwelt dann aber doch aufgrund kreativer Umformungen und Vermischungen mit anderen Ideen wie der Welt außerhalb der Realität einen durchaus eigenständigen und in sich stimmigen Charakter aufweist.

So bin ich mehr als gespannt, was in Zukunft noch zu diesem Spiel an Material erscheinen mag.

Michael Kleu

Anmerkungen

  1. Unter dem Begriff Pantheon versteht man die Gesamtheit der Gottheiten einer Religion.
  2. Nikolas Tsamourtzis hat bereits zugesagt, sich in einer Podcastsendung mit mir über Mythaloria zu unterhalten. Bei dieser Gelegenheit werde ich erfragen, wie dieser Punkt genau zu verstehen ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Bitte stimme den Datenschutzbestimmungen zu.

Betrieben von WordPress | Theme: Baskerville 2 von Anders Noren.

Nach oben ↑