Welche historische Persönlichkeit würde man treffen wollen, wenn ein Zeitreisender einen zu einer Reise in die Vergangenheit einladen würde? Würde sich das Bild, das wir von der Person haben, bestätigen, wären wir enttäuscht oder gar entsetzt? – In der Doctor-Who-Graphic-Novell The Chains of Olympus[1] ist es der Doctor selbst, der voller Begeisterung und Vorfreude seinen Helden Sokrates treffen will.
Allerdings stellt er recht bald ernüchtert fest, dass der „reale“ Sokrates auch nur ein Mensch ist. Und nebenbei ist ein Problem mit zürnenden olympischen Göttern zu lösen, die durch den Glauben der Menschen – und ein außerirdisches Metall – wirklich werden. Dabei verwebt die Story in geschickter Weise unterschiedliche Ebenen von Realität und Fiktion und spielt mit Sokrates‘ und Platons Philosophie.
Der Doctor und sein Held Sokrates – zwischen Erwartung und Enttäuschung
Der Doctor in Form seiner 11. Inkarnation und seine Companions Amy und Rory landen im Athen des Jahres 410 v. Chr. Gleich zu Beginn charakterisiert der Doctor Athen mit allen zentralen Leistungen, die dem klassischen Athen zugeschrieben werden – Demokratie, Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Redefreiheit, Rechtssprechung, Mathematik, Medizin, Metaphysik – als „day one for western civilisation“. Dieses positive Bild spiegelt sich auch in dem aufwändigen doppelseitigen Panorama der athenischen Agora:
Die doppelgeschossige Säulenhalle (Stoa) wurde mit Sicherheit durch die im 20. Jahrhundert rekonstruierte „Stoa des Attalus“ aus dem 2. Jh. v. Chr. inspiriert, auch wenn dies ein wenig anachronistisch ist. Man kann sich gut vorstellen, wie der Doctor, hier aus anderer Perspektive, auf dem Weg vom Akropolishügel herab auf die antike Agora läuft:
Auf seiner Suche nach Sokrates scheint die Vorfreude, eine so bedeutende Persönlichkeit zu treffen, wirklich unermesslich. Über vier Panels hinweg, stellt der Doctor Sokrates‘ Bedeutung heraus und hält zuerst einen anderen Athener für Sokrates.[2] Als den „echten“ Sokrates dann doch noch findet, ist er ist sichtlich enttäuscht; er erkennt Sokrates zwar („he does look like the statues“, S. 8), findet ihn aber in wenig dekorativer Pose auf einer Bank schlafend und dabei laut schnarchend vor. Als Sokrates aufwacht, erweist dieser sich als extrem unhöflich („Who in Tartarus are you and why are you breathing my air?“, S. 8) und überhaupt nicht begeistert von der Aussage des Doctors, er sei ein „great follower“ von Sokrates, – und schlägt ihn mit einem Kinnhaken nieder.[3]
Platon und Sokrates‘ Philosophie
Ein junger Schüler des Sokrates, der sich etwas später als Platon vorstellt, versucht Sokrates zu beruhigen. Dieser beschuldigt den Doctor allerdings obendrein, den Streit angefangen zu haben, worauf der junge Platon ihn auf eine seiner eigenen Lehren hinweist: „You’ve always said that it can never be right to return an injury! Where is the virtue in violence?“ (S. 9). Damit weist er auf eine zentrale Aussage des Sokrates hin, es sei besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun.[4]
Der Umstand, dass er hier nicht nur den Doctor niederschlägt, sondern ihm auch noch die Schuld zuweist und dabei seinen Schüler Platon dreist anlügt, stellt, nach der Irritation über den schlafenden und laut schnarchenden Sokrates, einen umso stärkeren Kontrast zur Erwartung sowohl des Doctors, als auch des Lesers des Comics her, die beide unter dem Eindruck der Sokrates-Darstellung bei Platon eine Person erwarten, die so handelt, wie es den ihm in den Mund gelegten weisen Aussagen entsprechen würde.
Dies ist im Übrigen eine Erwartung, die auch wieder durch Aussagen des Sokrates bei Platon selbst hervorgerufen wird, heißt es doch, dass wer wirklich weiß, was das Gute ist, das auch tut.
Auf Platons Hinweis auf „virtue“ antwortet Sokrates mit dem ebenfalls nicht erwartungsgemäßen Wunsch, sich in einer Taverne zu betrinken („You’re right, boy. Virtue is what I need right now. Lots and lots of virtue. Let’s go get some at the tavern…”, S. 9). Hier zeigt sich ebenfalls eine Umkehr der üblichen sokratischen Haltung: Denn gerade die „virtue“ bzw. die Tugend oder Vortrefflichkeit (lat. virtus, gr. arete/ἀρετή) soll sich beim Menschen in Besonnenheit und Selbstbeherrschung äußern[5] – und nun gerade nicht in dem Jähzorn und der Trunkenheit, die Sokrates hier an den Tag legt.
Realität und Fiktion(en): Bilder von Sokrates
Die Story von Chains of Olympus füllt Lücken, die unsere historischen Informationen und literarischen Darstellungen nicht schließen können. Vor allem die zentrale Figur des Sokrates, der selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat und uns nur aus zweiter Hand, nämlich in der Darstellung bei anderen Autoren, vor allem Platon, Xenophon und Aristophanes, bekannt ist, entzieht sich so sehr einer objektiven Charakterisierung, dass sich wiederum alle Möglichkeiten für eine kreative Ausgestaltung bieten.
Auch wenn der Doctor – und wir – Sokrates tatsächlich daran erkennen, dass er so aussieht wie „die Statuen“, entspricht die Gestalt des Sokrates in diesen antiken Abbildungen oft auch nicht den idealisierenden Erwartungen an die Gestalt eines weisen Mannes. Das wiederum lässt darauf hoffen, dass das Bildnis einigermaßen authentisch geraten ist.
Da die zeichnerische Darstellung des Sokrates so deutlich an bekannte bildliche Darstellungen des Sokrates aus der Antike anschließt, die ihn sowohl für den Doctor als auch für den Leser des Comics erkennbar machen, weckt diese – zusammen mit der idealisierenden Begeisterung des Doctors – auch die entsprechenden Erwartungen. Auf diese Weise begleitet der Leser den Doctor auch durch seine anschließende Irritation und Enttäuschung hindurch. So kommt der Doctor bei seiner folgenden Beobachtung des betrunkenen Sokrates in der Taverne (S. 12; 20-21) zunächst zu dem Schluss, dass der eigentlich Weise Platon gewesen sein muss, eben weil Sokrates selbst nie etwas geschrieben hat, bis er von Amy aufgefordert wird, sich damit zu arrangieren, dass sein „hero“ nicht perfekt ist.
Sokrates in Aristophanes’ Wolken
Besonders deutlich als fiktionale Figur tritt Sokrates in der zu seinen Lebzeiten aufgeführten[6] Komödie Die Wolken des Aristophanes in Erscheinung. Hier wird der damals schon prominente Sokrates als ein wörtlich in den Wolken über allen anderen schwebender Philosoph lächerlich gemacht.
Chains of Olympus thematisiert nun genau diese Darstellung und die möglichen Folgen für die reale Person Sokrates. Wir wissen natürlich nichts darüber, wie der historische Sokrates dies in Wirklichkeit verarbeitet hat. Spekulationen darüber, dass Aristophanes‘ Wolken für die schlechte Stimmung gegen Sokrates und letztlich für seine Verurteilung zum Tode verantwortlich gemacht wurden, gab es durchaus, wie Sokrates‘ Verteidigungsrede (Apologie) nahelegt.[7] Aber genau diese Lücke schließt Chains of Olympus. Seit der Aufführung wird er von den Athenern offensichtlich ausgelacht („Hey, look, it’s old socky! Pulled your head out of the clouds yet, granddad? – Hah-hah-hah“, S. 9) und ist daher nun auch dem Alkohol verfallen.
So klagt der betrunkene Sokrates: „I love this town, y’know… I r’lly, r’lly love it… But it dussn’t love me“ (S. 12), womit der Comic anspielt auf den späteren Prozess und die Anklage wegen seines schlechten Einflusses auf die Jugend und Gottlosigkeit (Asebie), weil er nicht an die traditionellen Götter glaubte. Der Prozess gegen ihn endete schließlich mit der Verurteilung zum Tode durch den Schierlingsbecher.
Sokrates: der Weiseste von allen oder Witzfigur?
Der Platon in Chains of Olympus reflektiert den Abstieg des Sokrates schließlich mit Worten, die durchaus zu der Erwartung des Doctors vor der Begegnung, ebenso wie zur Darstellung in den später von Platon verfassten Dialogen passen. Dass Sokrates „the wisest man in Athens, perhaps the world“ (S. 12) ist, entspricht dabei der ebenfalls bei Platon zu findenden Auskunft über eine Weissagung des Apoll, nach der Sokrates der weiseste aller Menschen sei.[8]
Hiernach wurde das Orakel in Delphi dazu befragt, ob jemand weiser sei als Sokrates und die Antwort lautete, niemand sei weiser. Sokrates konnte sich das nicht erklären und versuchte fortan, durch die Befragung scheinbar weiser Menschen herauszufinden, was es mit dieser Behauptung auf sich habe und kam am Ende zu dem Schluss, seine Weisheit bestehe darin zu wissen, dass er nichts weiß. Entsprechend sah er es als seine Aufgabe an, diese Erkenntnis auch anderen Menschen beizubringen.
Hier in Chains of Olympus macht nun Platon namentlich Aristophanes für Sokrates‘ Abstieg verantwortlich – und der Doctor kennt sogar den Titel des betreffenden Stücks: Die Wolken.
Daraus zieht Platon das Fazit: „It was as if Soctrates the man had been supplanted by Socrates the fiction“ (S. 12) – eine metaliterarische Bemerkung nicht nur über die Verwendung von Sokrates als Komödienfigur, die offensichtlich eine Rückwirkung auf die Wirklichkeit hat, sondern auch über die ebenso wenig historisch akkurate Darstellung des Sokrates bei Platon – und die Darstellung in der Story von Chains of Olympus. Weder die negative, noch die idealisierende Darstellung lassen sich am Ende ungelesen machen.
Der Doctor versteht schließlich, dass die von ihm verehrte Heldenfigur, Sokrates, nicht nur eine literarische Figur ist, die von Platon idealisiert wird und seinen Erwartungen so gar nicht entsprechen will, sondern ein Mensch mit Ecken und Kanten, der sogar unter der Darstellung als literarische Figur, die in der Komödie verspottet wird, und dem daraus folgenden Reputationsverlust in der „Wirklichkeit“ (des Comics) leidet.
Die olympischen Götter: Glaube und Wirklichkeit
Umgekehrt stellt sich der Fall bei den olympischen Göttern dar: Der Comic spielt hier mit dem Umstand, dass die Athener – oder zumindest einige – einerseits tatsächlich an diese Götter glaubten, aber andererseits auch unter dem Zwang der Umstände in der Welt (Krieg mit Sparta) rein pragmatisch und aus rationalen Überlegungen handelten:
So schmelzen sie Götterstatuen ein, um mit dem gewonnenen Gold den Krieg gegen Sparta zu finanzieren. Dies führt im Comic jedoch zu dem Problem, dass beim Einschmelzen einer Athene-Statue auch ein außerirdisches Metall freigesetzt wird. – Und damit kommen wir zu dem eigentlich titelgebenden Handlungsstrang um die Olympischen Götter.
Die Vorgeschichte: Entstehung der Götter aus dem Glauben (und einem außerirdischen Metall)
Calidora, eine athenische Frau, hatte als Kind beobachtet, wie ein goldenes Ei auf die Erde fiel und hielt es für ein Geschenk der Götter. Wie von dem Ei selbst befohlen, vergrub sie es, sammelte aber einige Teile des Metalls, die beim Absturz abgefallen waren, auf und nahm sie mit nach Hause. Zufällig war ihr Vater gerade beim Gießen einer goldenen Athene-Statue. Also goss Calidora heimlich etwas von dem Metall unter das Gold der Statue und machte aus dem Rest ein Amulett.
Da dieses Metall die Eigenschaft besitzt, Glauben zu manifestieren, erweckte Calidora, ohne es zu ahnen, durch ihren Glauben und ihre jahrelangen Gebete die olympischen Götter zum Leben. Dies ging solange gut, wie sie verehrt wurden. Erst als die Statue eingeschmolzen wurde, erhob Zeus sich und begann, die Athener zur Strafe für ihren Unglauben zu bekämpfen, während die anderen Olympier aufgrund ihrer fehlenden Bemühungen um den Glauben der Menschen im Olymp in Ketten liegen.
Die olympischen Götter erscheinen!
Dabei erscheint den Athenern zunächst Zeus, der einige Blitze schleudert. Bei genauerem Hinsehen stellt der Doctor allerdings fest, dass es sich um eine Projektion handelt, die sich bald darauf aufgrund des hohen Energiebedarfs verflüchtigt. Im zweiten Schritt erheben sich einige aus dem griechischen Mythos wohlbekannte Figuren aus alltäglichen Materialien.
Ein Baum verwandelt sich in einen Zyklopen, aus dem Steinfußboden erheben sich Harpyien, aus einem Brunnen springt ein dreiköpfiger Kerberos heraus, aus einer Hauswand bricht ein Greif hervor und aus den glühenden Kohlen der Metallschmelze eine Hydra,[9] die der Doctor – wie üblich, wenn er Monstern begegnet – ganz wunderbar findet („What a beauty!“).
Diese Monster kann der Doctor mithilfe des von Calidora hergestellten Talismans, der zuvor von einem der Blitze des Zeus getroffen wurde, auflösen, da die aus Vorstellungen entstandene psychokinetische Energie offensichtlich den aus denselben Vorstellungen entstandenen Wesen und Götter entgegenwirkt. Zuletzt schickt Zeus den Kriegsgott Ares nach Athen, der von Amy und Rory auf ähnliche Weise bekämpft und besiegt wird.
Sokrates und die Idee der olympischen Götter
Mithilfe seines Sonic Screwdriver spürt der Doctor das goldene Ei auf, das Calidora damals vergraben hat. Mittlerweile ist es durch den Glauben der Menschen riesig groß geworden und schwebt – eigentlich unsichtbar in einem „dimensional fold“ in der Luft. Der Doctor öffnet es und gemeinsam mit Sokrates steigt er in den Olymp, der eigentlich eine „belief engine“ (S. 35) ist.
Der Eingang zum Olymp ist sogar mit griechischen Buchstaben versehen, die jedoch leider keinen Sinn ergeben und somit nur dekorativen Wert haben. – Eine Beschriftung mit den griechischen Großbuchstaben für Olympos – ΟΛΥΜΠΟΣ – hätte dabei vielleicht auch die erzielte Wirkung beim Anblick der fremdartigen griechischen Buchstaben gehabt.
Sokrates kommt bei seinem Aufstieg in den Olymp zur Einsicht, dass erstens der Olymp ein „realm composed of pure ideas“ (S. 36) ist und zweitens die Götter nicht wirklich existieren: „You say this is not the true Zeus, but merely the idea of Zeus?” (S. 41).
Beide Stellen spielen mit der platonischen Ideenlehre, was durch die Nennung von Platon explizit gemacht wird. Im Gegensatz zu platonischen Ideenlehre ist allerdings der Realitätsgrad umgekehrt: Während die platonische Idee im Gegensatz zu den Dingen auf der Welt die eigentliche Wirklichkeit darstellt, also „realer“ ist,[10] erscheinen hier die Götter zwar „wirklich“, d.h. physisch existent, und ihr Handeln hat tatsächliche Auswirkungen für die Athener (einige sterben sogar und Gebäude werden zerstört), sie kommen allerdings nur aufgrund der Vorstellungen und des Glaubens der Menschen in die Welt d.h. als Idee im alltagssprachlichen Sinn.
Ein deutlicher Bezug zum platonischen Höhlengleichnis, in dem die Höhle für den normalen Zustand der Unwissenheit, in dem Menschen die hiesige Welt für real halten steht, zeigt sich auch noch in einer kurzen Bemerkung des Doctors am Schluss von Chains of Olympus: Hier erklärt er, dass mit dem Auftreten der Götter und der folgenden Zerstörungswut, die Menschen verängstigt zurückgehen in die Höhle; d.h. sie geben ihre Rationalität und zivilisatorischen Errungenschaften auf (vgl. oben zur Ankunft in Athen).
Insgesamt bietet Chains of Olympus mit der Erkenntnis des Sokrates, dass die Götter nicht wirklich existieren, hier einen wunderbaren „Beleg“ für die spätere Anklage gegen Sokrates wegen Asebie („Unfrömmigkeit“).
Widerlegung der Existenz der Götter: die sokratische Methode
Da der Doctor gleich nach der Ankunft im Olymp von Zeus an eine Säule gekettet wird, muss Sokrates allein die olympischen Götter konfrontieren. Ihm gelingt es, im Gespräch mit Zeus die Existenz der Götter zu widerlegen – mit der sokratischen Methode:
In seiner Argumentation überzeugt er Zeus selbst von der Nicht-Existenz der olympischen Götter, so dass er und mit ihm die anderen Götter verschwinden: Die Vollkommenheit der Macht des Zeus ist widerlegt, weil auch sein Wissen nicht vollkommen ist. Und weil schließlich Ares von Menschen getötet wird und daher kein unsterblicher Gott sein kann, kann auch sein Vater Zeus kein unsterblicher Gott sein.
Interessant ist dabei, dass lediglich Athene, die Göttin der Weisheit, als einzige der Olympier sich offensichtlich die ganze Zeit über der Tatsache bewusst war, dass sie und die anderen Götter nicht existieren. – Dass fiktive Figuren ihre eigene Fiktionalität reflektieren, ist, vor allem in der Zeit des elften und zwölften Doctors, also der des Showrunners Steven Moffat, ein gerne genutztes Motiv.[11]
Ist der Doctor weise? – Die philosophische Begegnung zwischen dem Doctor und Socrates
Dass ausgerechnet Sokrates hier dem Doctor begegnet, ist – abgesehen davon, dass diese Begegnung nach fast 50 Jahren der Serie Doctor Who überfällig schien – auch deshalb so passend, weil eines der wesentlichen Charakteristika des Doctors, der bekanntlich keine Waffen trägt, in seiner Fähigkeit zu sehen ist, Gegner durch Reden zu überzeugen und von ihren Vorhaben abzubringen – sogar wenn es sich um Bösewichter handelt, die keinen Argumenten zugänglich sind, wie die Cybermen oder Daleks.
Aber ist der Doctor auch weise?
Nachdem sich der Doctor abgefunden hat mit der Tatsache, dass Sokrates in „Wirklichkeit“ nicht seinen Idealvorstellungen entspricht, kann er anfangen, ihm in seiner traurigen Lage zu helfen: Da er natürlich die Zukunft kennt (wie wir in diesem Fall auch), kann er Sokrates versichern, dass man sich an ihn erinnern wird – und nicht an die, die ihn auslachen. Sokrates wiederum reagiert, indem er beginnt, den Doctor philosophisch herauszufordern.
Dabei regt er den Doctor zu der notwendigen Innenschau und Selbsterkenntnis an, die an die sprichwörtlich gewordene Aufforderung „Erkenne dich selbst!“ (Gnothi seauton) erinnert. Selbsterkenntnis und Fürsorge für die Seele durch Philosophieren stellen dabei für den platonischen Sokrates einen wesentlichen Aspekt eines guten Lebens dar.[12]
Zum Schluss stellt Sokrates allerdings fest, dass der Doctor in diesem Sinne kein weiser Mann ist. Diese Innenschau wird tatsächlich erst der 12. Doctor unternehmen mit seiner zunächst die gesamte Series 8 durchziehenden Frage „Am I a good man?“.[13]
Fazit zu The Chains of Olympus
Das Graphic Novel Chains of Olympus erweist sich als sehr intelligent gemachte Antikenrezeption: Hier werden kenntnisreich Bezüge zu Platons Sokrates-Darstellung und Aristophanes‘ Komödie Die Wolken hergestellt, Exkurse in die Philosophie genutzt und mit Realität und Fiktionalität gespielt.
Dabei nutzt es die für das Genre Science Fiction typische Möglichkeit, mittels einer Zeitreise historische Persönlichkeiten zu zeigen, wie sie „wirklich“ waren: D.h. einerseits agieren Platon und Sokrates kongruent zur Erzählung und andererseits füllt die Erzählung Lücken, die in der historischen Biographie existieren, in einer Weise, die einigermaßen kongruent zur historischen Wirklichkeit ist: So könnte es tatsächlich gewesen sein.
Daneben stellt Chains of Olympus auch die Frage, wie wir in unserer Gegenwart antike Texte rezipieren (sollen) und welches Bild wir uns von antiken Persönlichkeiten machen: Die immense Begeisterung und Vorfreude, die der Doctor bei seiner Ankunft in Athen zeigt, entspricht der zuweilen idealisierenden Sicht auf die antike Literatur und ihre Autoren, die immer auch infrage gestellt werden darf.
Über die Autorin
Johanna Nickel studierte Latein, Griechisch und Philosophie in Göttingen. Nach der Promotion in Frankfurt am Main unterrichtete sie einige Jahre als Gymnasiallehrerin in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Derzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln und habilitierte sich zu interkultureller Literaturdidaktik.
Anmerkungen
[1] Ursprünglich ist das Graphic Novel Chains of Olympus in vier Teilen im Doctor Who Magazine, Ausgaben 442–445 (2011–2012) erschienen (Story: Scott Gray; Pencil Art: Mike Collins; Inks: David A Roach). Textgrundlage ist hier der Abdruck im Sammelband: Doctor Who. The Chains of Olympus, Collected Eleventh Doctor Comic Strips – Volume 2, Tunbridge Wells, Kent (Panini Comics) 2. Aufl. 2014, S. 5–52. Dieser Band enthält auch einen Kommentar von Scott Gray und Mike Collins zur Entstehungsgeschichte und Hintergründen.
[2] Es sollte übrigens nicht weiter verwundern, dass der elfte Doctor hier in seiner üblichen Kleidung mit Tweed-Jackett und Fliege („Bow ties are cool.“) durch das antike Athen läuft. Im Comic begründet er dieses für ihn eigentlich normale Verhalten sogar mit den Worten „Because […] I have the uncanny ability to blend into any point in the history of the universe like a temporal chameleon … and togas make me walk funny.“ (S. 5). Für Rezipienten mit altphilologischem Hintergrund mag Eleven ohnehin wie ein etwas aus der Zeit gefallener Griechischprofessor wirken.
[3] Das kommentiert Amy mit einem abgewandelten Vergil-Zitat: „Beware of Greeks bearing fists…“ (S. 9) mit einem Wortspiel „fists“ anstatt „gifts“ in der englischen Übersetzung: „Beware of Greeks bearing gifts.“ nach Vergil, Aeneis 2, 49: Timeo Danaos et dona ferentes.
[4] Platon, Gorgias 474 b τὸ ἀδικεῖν τοῦ ἀδικεῖσθαι κάκιον (to adikon tou adikeisthai kakion) „das Unrechttun sei schlechter als das Unrechttun“. Den platonischen Dialog Gorgias nennt Scott Gray in seinem Kommentar auch explizit als eine seiner Quellen zur Figur des Sokrates.
[5] Platon, Gorgias 506c–508a.
[6] Die Wolken wurden 423 v. Chr. aufgeführt, als Sokrates (469–399 v. Chr.) etwa 46 Jahre alt war und bereits für seine philosophische Tätigkeit bekannt gewesen sein musste, da er andernfalls nicht als ein prominentes Ziel des Spotts in der Komödie vorgekommen wäre. Andere Figuren in derselben Komödie sind fiktiv und stellen lediglich Typen dar, denen reale Personen ähnlich sein können.
[7] Platon, Apologie 18a–e.
[8] Platon, Apologie 20c–23c.
[9] Während der aus einem Baum entstehende Zyklop sogar zu Homers Beschreibung des riesigen Zyklopen Polyphem, der wie ein bewaldeter Berggipfel wirkt, passt (Odyssee 9, 191), scheint die aus glühenden Kohlen bestehende Hydra nicht ganz stimmig, da es sich bei dem ursprünglichen Monster Hydra, das Herakles bekämpft, eigentlich um eine Wasserschlange handelt. Es scheint hier bei dem Entwurf der Monster jedoch vor allem um die unterschiedlichen Materialien bzw. Elemente gegangen sein, aus denen sie entspringen.
[10] Vgl. z.B. das Höhlengleichnis in Platons Politeia 514a – 518b.
[11] Vgl. Flesh and Stone (S5, E5): The Doctor (11): „The Pandorica. Ha! That’s a fairy tale.“ – River Song „Oh, Doctor! Aren‘t we all?“; Robot of Sherwood (S8, E3): Robin Hood zum Doctor (12): „Perhaps we will both be stories. And may those stories never end. […] And remember, Doctor, I’m just as real as you are.“
[12] Vgl. Platon, Gorgias 526–527.
[13] Beginnend in Into the Dalek (S8, E2) und vorerst endend mit der Erkenntnis in Death in Heaven (S8, E12): „I am not a good man, I’m not a bad man, I am not a hero. I’m definitely not a president. And, no, I‘m not an officer. You know what I am? I am an idiot, with a box and a screwdriver. Passing through, helping out. Learning.“ – Die Erkenntnis „I am an idiot“ erinnert natürlich sehr stark an das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
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