Die Götter müssen sterben

Die Götter müssen sterben – Amazonen & Dark Fantasy

Bei Die Götter müssen sterben handelt es sich um eine von der Autorin Nora Bendzko verfasste Neuinterpretation der Sagen und Mythen um die Amazonen und deren Beteiligung am Trojanischen Krieg.

Worum geht es?

Das Buch erzählt die Geschichte der Athenerin Areto, die im Haushalt des Königs Theseus dient, aber aufgrund diverser Umstände von den Amazonen aufgenommen wird und später als Auserwählte der Artemis mit den Kriegerinnen ihrer neuen Heimat nach Troja zieht, um der Stadt gegen die angreifenden Griechen beizustehen. Parallele Erzählstränge präsentieren die Geschichte aus den jeweiligen Perspektiven der mächtigen Kämpferin Clete, der Königin Penthesilea sowie der Göttin Artemis. Den Höhepunkt der Erzählung stellen die letztlich vergebliche Verteidigung Trojas und der Zweikampf zwischen Penthesilea und Achilles dar.

Dennoch handelt es sich bei Die Götter müssen sterben keineswegs um eine klassische Held*innenstory. Vielmehr geht es vor dem Hintergrund der Amazonengesellschaft (s.u.) und des Trojanischen Kriegs um menschliche Schicksale und zwischenmenschliche Beziehungen. Wie der Titel des Buches nahelegt, zählt letztlich auch das Aufbegehren der Amazonen gegen das rücksichtslose Verhalten der Gottheiten zu den Themen des Buchs.

Triggerwarnung

Wie das antike Quellenmaterial weist Die Götter müssen sterben ein größeres Maß an (sexueller) Gewalt und Brutalität auf. Außerdem thematisiert das Buch Suizidalität und depressive Stimmungen.

Die Intention und das Vorgehen der Autorin

Da Nora Bendzko im Nachwort von Die Götter müssen sterben die Entstehungsgeschichte des Romans sowie ihr methodisches Vorgehen erläutert, erscheint es sinnvoll, ihre diesbezüglichen Ausführungen an dieser Stelle in zusammengefasster Form vorzustellen und im Anschluss in den Kontext der eigenen Leseerfahrung einzubetten.

Die Ausgangslage

Nachdem Nora Bendzko diverse düstere Märchenadaptionen im Stil der Dark Fantasy veröffentlich hatte, wandte sie sich aus persönlichem Interesse den Amazonen zu, wobei sie überrascht feststellte, dass diese von der Ilias bis zu Wolfgang Petersens Troy (2004) oft eher von außen betrachtete Nebenfiguren darstellen, wenn sie denn überhaupt in Erscheinung treten (S. 505.).1 Also setzte sie sich zum Ziel, eine Geschichte aus Perspektive der Amazonen zu erzählen, die einerseits auf der antiken Überlieferung basiert, andererseits aber mit den in den Quellen präsentierten Amazonen-Bildern und den damit verbundenen Klischees spielt, sie kritisch hinterfragt und schließlich uminterpretiert (S. 505-507).

Dabei hat sich die Autorin bewusst gegen ein feministisches Amazonen-Utopia entschieden und präsentiert der Leserschaft stattdessen eine matriarchalische Gesellschaft, die in Form von Sklaverei, zweifelhaften Traditionen sowie Gewalt und Brutalität durchaus düstere Schattenseiten aufweist. Ebenso integriert sie abweichend von der antiken Überlieferung Männer und mit den Vielseligen auch Angehörige eines dritten Geschlechts in die Gesellschaft der Amazonen (S. 507-508).

Die drei Stämme

Den Umstand, dass die antiken Zeugnisse die Amazonen einerseits in Kleinasien (heutige Türkei) lokalisieren, andererseits manchmal aber auch in den Gebieten um das Schwarze Meer oder sogar in Libyen (Nord-Afrika), nutzt Nora Bendzko zur Schöpfung dreier Amazonen-Stämme, die miteinander in enger Verbindung stehen: „die Mütter der Sterne im nördlichen Kaukasus, die Töchter des Mondes vom Schwarzen Meer und die Schwestern der Sonne an der libyschen Küste.“ (S.97)

Mit den Schwestern der Sonne und anderen People of Color im Buch spricht die Autorin den wichtigen Punkt an, dass wir dazu neigen, uns die Antike und damit auch die griechisch-römische Mythologie „weiß“ vorzustellen, was natürlich aus vielerlei Perspektive problematisch erscheint (S. 509f.).2

Die Götter müssen sterben
Das Buch „Die Götter müssen sterben“ mit Patroklos, Artemis und Achilles. (Foto: Michael Kleu)

Quellenarbeit

In Bezug auf die antike und mittelalterliche Überlieferung spricht die Autorin (natürlich) die Ilias, die nicht erhaltene Aithiopis des Arktinos von Milet, die Tragödie Hiketides (Die Schutzflehenden) des Aischylos, Herodots Historien, die Posthomerica des Quintus von Smyrna, die Bibliotheke des Apollodor sowie Eustathios von Thessalonike an. Aufgrund der Einordnung der genannten Werke sowie der Verweise auf die Perseus Digital Library und das Projekt Gutenberg ergibt sich, dass Nora Bendzko nicht nur in der Forschungsliteratur über diese antiken Zeugnisse las, sondern auch selbst deren deutsche und englische Übersetzungen herangezogen hat (S. 505-510).3

Da die antiken Zeugnisse teilweise widersprüchlich sind und sich dementsprechend nicht zu einem harmonischen Gesamtbild zusammenfügen lassen, musste sich Nora Bendzko für bestimmte Varianten entscheiden, wobei sie sich aufgrund des Umstands, dass es sich bei Die Götter müssen sterben um einen Fantasy-Roman handelt, natürlich auch bewusst gewisse Freiheiten nehmen konnte (S. 506f.).

Sachbücher und Forschungsliteratur

Hinzu kamen verschiedene wissenschaftliche Werke und Sachbücher, die der Autorin halfen, das Quellenmaterial in den richtigen Kontext zu setzen und sich mit verschiedenen Forschungsproblemen um die Themenfelder Trojanischer Krieg und Amazonen auseinanderzusetzen (S. 506 u. 510).4 Hierzu zählen die Fragen, ob es Amazonen und den Krieg um Troja nur in Mythos und Sage gegeben hat und inwiefern beides von realen Gegebenheiten und Ereignissen inspiriert sein könnte (S. 506 u. 510).

Nora Bendzko spricht es in ihrem Nachwort nicht an, doch dürfte sie über Sachbücher und Forschungsliteratur auf den Namen Areto gestoßen sein, den sie im Roman ihrer Protagonistin verlieh. Denn die Amazone Areto kommt in den uns erhaltenen schriftlichen Quellen nicht vor, sodass wir sie nur durch ihre bildliche Darstellung auf einer griechischen Vase kennen.

Einflüsse aus Kunst und Kultur

Abschließend sei noch erwähnt, dass sich Nora Bendzko nicht nur von antiken Quellen und moderner Forschungsliteratur, sondern auch von Kunst und Kultur hat inspirieren lassen, wobei sie diesbezüglich Madeleine Millers The Song of Achilles (2011) und Heinrich von Kleists Penthesilea (1808) hervorhebt (S. 511).

Mein Eindruck von Die Götter müssen sterben

Nora Bendzko folgt in ihrem Roman auf der Makroebene den wesentlichen Eckpunkten der antiken Überlieferung, interpretiert dabei aber die Motivation der Handelnden und die gegebenen Rahmenbedingungen um, wobei natürlich auch einige Aspekte hinzuerfunden werden.5 Auf der Mikroebene finden sich immer wieder Details, die die tiefere Auseinandersetzung der Autorin mit den antiken Quellen und der Forschungsliteratur belegen. Dies zeigt sich innerhalb des Romans zum Beispiel bei der Thematisierung der luwischen Sprache oder der Erwähnung des Umstands, dass der Gott Pan zur Mittagszeit besonders launisch bzw. gefährlich sein kann.

Gewöhnungsbedürftig erscheint hingegen, dass Nora Bendzko bei manchen Namen der im Deutschen üblichen griechischen Schreibweise folgt, bei anderen aber die lateinische Variante wählt, wie es im englischen Sprachraum gängig ist.6 Denn dieses Vorgehen führt dazu, dass in einem grundsätzlich eher griechischen Kontext die Amazonen Clete und Lacomache lateinisch geschrieben werden oder beispielsweise auf Seite 346 in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen von Callistus und Kaystros die Rede ist. Einerseits spiegelt dieses Vorgehen zwar wider, dass die antike Überlieferung zu Amazonen und Trojanischem Krieg sowohl griechisch- als auch lateinsprachig ist. Andererseits wirkt diese Mischschreibung jedoch ebenso ungewöhnlich wie uneinheitlich.

Mein Fazit zu „Die Götter müssen sterben“

Ein Fantasyroman mit Bezug zur Antike soll in erster Linie gute Unterhaltung bieten, weshalb es letztlich natürlich von nachrangiger Bedeutung ist, inwiefern das Geschriebene mit dem übereinstimmt, was in den antiken Vorlagen steht. Umso bemerkenswerter erscheint, dass Nora Bendzko mit Die Götter müssen sterben eine fulminante Fantasy-Story präsentiert, die sich durchaus intensiv mit den antiken Zeugnissen sowie deren späterer Rezeption auseinandersetzt.

Insofern stellt der Roman nicht einfach eine Dark-Fantasy-Variante der Erzählungen um die Amazonen, sondern tatsächlich eine Neuinterpretation dar, die das antike Erbe aufgreift und im Kontext der progressiven Phantastik sehr gekonnt an die heutige Zeit anpasst.

Die Götter müssen sterben
Nora Bendzkos „Die Götter müssen sterben“
Michael Kleu

Anmerkungen

  1. Eine wirkungsmächtige Ausnahme, auf die Nora Bendzko an dieser Stelle nicht eingeht, ist natürlich Wonder Woman.
  2. Hier dürfte Hollywood nicht ganz unschuldig sein, werden in Filmen, die die Antike oder das Alte Testament präsentieren, die Protagonist*innen doch in der Regel sehr nordeuropäisch dargestellt, was vielleicht auch auf die Historienmalerei zurückzuführen ist. So wird die Spartanerin Helena, um ein Beispiel aus dem Kontext des hier relevanten Trojanischen Krieges zu nehmen, traditionell blond besetzt. Vgl. hierzu Blondell, Ruby: Helen of Troy in Hollywood (Martin classical lectures), Princeton 2023.
  3. Dass die diesbezügliche Auseinandersetzung der Autorin mit den gegebenen Themen keineswegs von oberflächlicher Natur gewesen ist, zeigt sich etwa an ihrer Feststellung, dass die antiken Zeugnisse dazu neigen, im Kontext von Amazonen und Trojanischem Krieg Ansichten und Gepflogenheiten ihrer eigenen Entstehungszeit auf das Kleinasien der Mykenischen Zeit zu projizieren (S. 506).
  4. Nora Bendzko nennt in diesem Kontext: Barry Strauss: Der Trojanische Krieg: Mythos und Wahrheit (2008), Hedwig Appelt: Die Amazonen: Töchter von Liebe und Krieg (2009), Charlotte Schubert/Alexander Weiß: Amazonen zwischen Griechen und Skythen (2013) sowie Robert Sturm: Amazonen: Schriftquellen und moderne Forschung zum Mythos des kriegerischen Frauenvolkes (2016).
  5. SPOILERWARNUNG: So tötet Penthesilea zum Beispiel entsprechend einer Überlieferung versehentlich ihre Schwester Hippolyte bei der Jagd, während sie selbst später vor Troja Achilles im Zweikampf unterliegt. Warum dies alles geschieht, geht dann aber weit über die antiken Vorlagen hinaus.
  6. Zu den auffälligsten Unterschieden der Schreibweisen zählt, dass man in Anlehnung an das Lateinische c statt k verwendet und aus der Endung -os die Endung -us wird. So wird dann etwa aus Καλλίμαχος (Kallimachos) durch Latinisierung Callimachus.

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