Antikenrezeption in Walter Moers‘ „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“

Was macht ein blauer Bär in der Antike?

Ein blauer Bär1 mag auf den ersten Blick kaum mit der Antike in Verbindung gebracht werden. Der Erfinder dieser Figur, der öffentlichkeitscheue Autor Walter Moers, lässt seinen Romanhelden jedoch so einige Abenteuer erleben, in denen Analogien zur Antike zu erkennen sind. Figuren, Orte und Rettungen in allerletzter Sekunde zeigen, dass Moers sich in altertümlichen Erzählungen, Mythen und Praktiken über das durchschnittliche Maß hinaus auskennt und sie in seinen von Kreativität nur so strotzenden Fantasy-Roman einzubringen weiß.

Von der Nussschale zur Insel der Feinschmecker – Käpt’n Blaubär im Schlaraffenland

Das Leben des Käpt’n Blaubär beginnt nicht mit dessen Geburt, sondern in einer Nussschale, in der er auf dem Meer treibt. Aus dieser wird er von Zwergpiraten gerettet, welche ihn – da er mit der Zeit zu groß für ihr Schiff wird – auf der Insel der Klabautergeister aussetzen. Nach einer wahrhaftigen Odyssee auf dem Meer landet er schließlich unvermittelt auf der Gourmetica Insularis.

Die Gourmetica Insularis ist – wie der Name schon verrät – eine Insel für Feinschmecker. Ihre gesamte Vegetation ist essbar, auf ihr fließen Flüsse aus Milch und Blütenkelche stehen voll mit Honig. Nicht nur das Gelobte Land Kanaan aus der Bibel wird so beschrieben, Honig wurde auch oft als Synonym für Nektar verwendet, der Nahrung, welche allein den Göttern vorbehalten war. Honig war zudem auch Bestandteil griechischer und römischer Trankopfer und Grabbeigaben (Hom. Il. 23, 170) und konnte bei guter Qualität sehr teuer sein (Arist. Pax 252-254). Selbst Lucullus hätte über die schlaraffenlandähnlichen Zustände auf der Insel gestaunt, die Moers hier auf den Tisch bringt.

Das Schlaraffenland bei Hesiod

Das Schlaraffenland ist übrigens keine moderne Erfindung, sondern bereits in Hesiods Lehrgedicht „Werke und Tage“ ( Ἔργα καὶ ἡμέραι – Erga kai hemerai) wiederzufinden (Hes. erg. 116-118). Bei Hesiod erleben die Menschen des Goldenen Zeitalters, die sich an das Gesetz halten und Dike (die personifizierte Gerechtigkeit) gehorchen, eine friedliche Zeit und fruchtbringende Äcker. Den luxuriösen Überfluss, wie ihn der junge Blaubär auf der Insel genießt, beschreibt Hesiod so jedoch nicht. Bei ihm ist von allem ausreichend vorhanden, sodass sich die Menschen des Goldenen Zeitalters keine Sorgen um ihre Versorgung machen müssen, von luxuriösem Überfluss spricht er jedoch nicht.

Das Schlaraffenland in der griechischen Komödie

Die Schlaraffenland-Thematik findet man außerdem auch in griechischen Komödien, wie zum Beispiel in einem Fragment des Telekleides. In „Amphiktyones“ fließt der Wein in Bächen und die Semmeln prügeln sich darum, in den Mund des Menschen fliegen zu dürfen. Aufopferungsvoll verlassen Fische das Flussbett, um sich zu braten und sich auf dem Tisch verzehrfertig dem Hunger der Menschen auszuliefern (Telekleides Ἀμφικτύονες Frg. 1,12). Auch Blaubär beobachtet, wie Hummer aus dem Meer laufen und sich todessüchtig in den Öltümpel werfen, um darin gekocht zu werden und seinem immer anspruchsvolleren Gaumen Genüge zu leisten. Dazu gibt es Trinkschokolade aus den fließenden Milchbächen der Insel, in die Früchte einer Kakaopflanze gefallen sind.3 Auch bei den „Ekklesiazusen“ (Frauen in der Volksversammlung), einer Komödie des Aristophanes, schaffen die Frauen eine kommunistisch gestaltete Utopie, die mit einem ausgiebigen Mahl abschließt. Gegessen werden dort

Schlüsselschnetzelrochenhaifischhirnwurstessigrettichknoblauchkäsehonigsoßedrosselaufamselringelturteltaubenhähnchengrillhirnschnepfenwachtelhasensiruptunkenschlemmerflügel4,

die das exorbitante Maß an Speisen buchstäblich wiederspiegeln.

Der Flugsaurier Deus X. Machina

Die Vorstellung eines von Speisen überfüllten Landes ist also beinahe so alt wie die Menschheit selbst. Moers parodiert diese, indem er sie auf die äußerste Spitze treibt, denn bei Blaubär wächst nicht nur der Umfang seines täglichen Speiseplans, sondern auch der seines Bauches. Er wird so kugelrund, dass ihn der sehschwache Flugsaurier mit dem klingenden Namen Deus X. Machina erspäht und in allerletzter Sekunde vor der sich in eine fleischfressende Pflanze verwandelnden Insel (ähnlich einer Venus-Fliegenfalle) rettet.

Der Name und das Phänomen des Flugsauriers, welcher beruflich Leben in allerletzter Sekunde rettet, ist eine in meinen Augen äußerst gelungene Analogie auf ein Element der antiken Theaterkunst. In der antiken Tragödie bringt der „Gott aus der Maschine“ die Lösung, wenn sich ein Stück in seiner Handlung so sehr verstrickt hat, dass es keinen logischen Ausgang mehr zu geben scheint. Die „Maschine“ ist in diesem Fall dann ein Kran (μηχανή – machina), der unerwartet einen Gott (Deus) in die Szene einfliegen lässt, um die Handlung zu einem guten Ende zu führen. Aristophanes parodiert diese Möglichkeit der unerwarteten Wendung beispielsweise in seinem Stück „Frieden“, in dem er den Winzer Trygäus auf einem riesigen Mistkäfer in den Olymp fliegen lässt, dabei saß der Schauspieler vermutlich auf einem Konstrukt, das von dem Kran in die Lüfte gehoben wurde.5

Photo: Maja Baum
Käpt’n Blaubär in Atlantis

Nach weiteren Abenteuern, es sei nur so viel gesagt: Vertrauen Sie niemals einem Stollentroll oder einem Tornado-Haltestellenzeichen in einer Wüste, erreicht der bunte Romanheld die Hauptstadt des fiktionalen Kontinents Zamonien: Atlantis. Die Megastadt nimmt auf einer von Moers angefertigten Karte einen beträchtlichen Anteil der Gesamtfläche ein und beherbergt eine Vielzahl von Wesen und Kreaturen verschiedenster Herkunft (Minotauren, rasende Mänaden begleitet von Satyrn, diverse Mischwesen…).

Käpt’n Blaubär als Gladiator in der Lügen-Arena

Blaubär mausert sich dort vom Tellerwäscher zum prestigeträchtigen Lügengladiator. Die Lügengladiatorenduelle finden im Megather (ein Neologismus μέγας – groß und θέατρον -Schauspielhaus, Theater) statt und erfreuen sich äußerster Beliebtheit.

Mit dem Gladiatorentum greift Moers auf ein unter den modernen Lesern wahrscheinlich sehr geläufiges Thema der Antike zurück. Gladiatorenkämpfe wurden in erster Linie unter den Römern populär und vornehmlich in Amphitheatern ausgetragen (amphi aus dem Griechischen steht hier für die rundherum angelegten Zuschauerränge; Theaterbauten waren hingegen meist halbrund). Der Brauch dieser Art von Zweikampf wurde ursprünglich auf aristokratischen Begräbnisfeiern ausgeübt. Etwa ab der späten Republik wurden Gladiatorenkämpfe für den Wahlkampf genutzt, die Gladiatoren selbst stammten aus der unteren Bevölkerungsschicht, also etwa Sklaven, Verbrecher und Kriegsgefangene. Nach einem Kampf durfte das Publikum per Handzeichen mitentscheiden, ob der Gladiator begnadigt würde oder den Tod verdiente.6 Auch bei Blaubär sind die Zuschauer an der Bewertung des Duells beteiligt: Der Applausmesser misst die Laustärke des Beifalls, derjenige, bei dem er höher ausschlägt, gewinnt die Runde.

Die Unsichtbaren Leute in der Kanalisation von Atlantis

In der Kanalisation von Atlantis (Blaubär gewinnt zwar das Lügenduell, zieht damit aber den Zorn des Unterweltkönigs Volzotan Smeiks auf sich, der gegen ihn gewettet und damit sein gesamtes Vermögen verloren hat), trifft er auf die unsichtbaren Leute. Bei diesen handelt es sich um das Volk eines fremden Planeten, das um einiges weiterentwickelt ist, als die Zamonier. Sie haben das gesamte Kanalsystem von Atlantis unterbaut und es dadurch zum Raumschiff gemacht. Dabei hinterließen sie den sogenannten „Atlantissee“, der den Anfang vom Untergang Zamoniens bedeuten sollte.7

Das Atlantis des Walter Moers und das Atlantis Platons

Auch Platons mythisches Atlantis, das in diesem Blog bereits mehrfach erörtert wurde, versank im Meer. Platon lokalisiert es in den Atlantik vor die Säulen des Herkules, welche heute die Straße von Gibraltar flankieren. Ein Blick auf die Weltkarte im Blaubär-Roman verrät, dass auch Moers den Kontinent Zamonien in den Atlantik verlegt und – welch‘ Überraschung – es befindet sich direkt neben den Säulen des Herkules!

Nach Platon besaß Atlantis, das Poseidon für die Menschentochter Kleito errichtet hatte, eine beeindruckende Größe (die Insel selbst soll einige Stadien bemessen haben, dazu das Gebiet von Libyen und Ägypten und auf europäischer Seite bis nach Etrurien). Das zamonische Atlantis wird mit über 100 Millionen Einwohnern der Kategorie Megastadt zugeordnet und wird sich so mit der antiken Legende messen können.

Poseidon soll seinen Sohn Atlas als König und dessen neun Geschwister als untergeordnete Mitregenten eingesetzt haben. Die Insel ist in mehrere Bezirke aufgeteilt und von Kanälen durchzogen. Beim zamonischen Atlantis verhält es sich ähnlich (nicht zuletzt, weil die Venedigermännlein Sehnsucht nach den Wasserstraßen ihrer Heimat hatten). Dort beherrschten ebenfalls ursprünglich Könige die verschiedenen Stadtteile, mit der Zeit verloren sie aber an Einfluss und treten nun nur noch für repräsentative Zwecke in der Öffentlichkeit auf. Platons Atlantis ist von einer langen Schutzmauer umgeben und auch Blaubär muss erstmal durch das Pyritgebirge und an einem großen Tor mit Yeti-Wachen vorbei, um in die Stadt zu gelangen. Auf manchen Karten ist zudem auch eine Stadtmauer zu erkennen.

Der Untergang von Atlantis bei Platon und bei Walter Moers

Versucht man die Schuldfrage für den Untergang der beiden fiktiven Städte zu klären, wird es spekulativ. Bei Platon ließ die Menschlichkeit, die sich mit den folgenden Generationen immer mehr in das göttliche Königsgeschlecht einmischt, die Atlanter missraten. Zeus beruft deshalb eine Versammlung, vermutlich um die Atlanter zu bestrafen, allerdings endet an dieser Stelle die Überlieferung von Platons „Kritias“. Bei „Timaios“ erfahren wir, dass die Gier die Bewohner von Atlantis dazu brachte, weitere Völker anzugreifen, wodurch sie den Zorn der Götter auf sich zogen, der sie schließlich vernichtete.

Im zamonischen Atlantis sind schon lange keine Menschen mehr geduldet, sie können also zunächst nicht für den Untergang von Atlantis verantwortlich sein. Schließlich sind es die unsichtbaren Leute, die “den Stöpsel ziehen“8, sie müssten also am Ende der Stadt und in Folge am Untergang des gesamten Kontinents schuldig sein. Allerdings setzen sie ihren Plan nicht allein in die Tat um. Auch zahlreiche Zamonier unterstützen sie bei ihrem Vorhaben und zwar vor allem, weil sie sich von den Menschen verdrängt fühlen, die den gesamten Planeten immer mehr für sich in Anspruch nehmen. Die Flucht der Zamonier erscheint dadurch als Rettung vor der Gier der Menschen, wie sie auch Platons Atlantis ins Verderben getrieben hatte.

Faszinierend ist, dass der Roman auch völlig ohne diesen Vergleich funktioniert. Wer die Parallele zu Platons Utopie allerdings erkennt, der kann die – durchaus aktuelle – Gesellschaftskritik, die Moers anbringt, noch wesentlich deutlicher wahrnehmen.

Maja E. Baum

Anmerkungen

  1. Die Buntbären gibt es übrigens in allen möglichen Farbfacetten, weshalb das erste Gesetz der Buntbären „Alle Buntbären sind ungleich“ lautet. S. Moers, Walter, Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übertragen, illustriert und mit einer halben Biographie des Dichters versehen von Walter Moers. Mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, Frankfurt 52002, 29.
  2. Kassel, R., Austin, C., Poetae Comici Graeci VII, Berlin u. a. 1989, 668.
  3. S. Moers, Walter, Die 13 ½ Leben des Käptn Blaubär. Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären; mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des „Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung“ von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, Frankfurt/Main 2002, 81.
  4. Aristophanes, Frauen in der Volksversammlung, übers. u. hg. v. Niklas Holzberg, Ditzingen 2017, 1169-1175.
  5. Zimmermann, Bernhard, Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit (Handbuch der griechischen Literatur der Antike 1), München 2011, 677.
  6. Flaig, Egon, DNP 4, 1998, Sp. 1076-1078, s. v. Gladiator.
  7. Vgl. Dollinger, Anja und Moers, Walter, Zamonien. Entdeckungsreise durch einen phantastischen Kontinent. Von A wie Anagrom Ataf bis Z wie Zamomin, München, 14 u. 16.
  8. Vgl. Moers Blaubär 689.

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