Veröffentlicht: 2. Januar 2019 – Letzte Aktualisierung: 5. Dezember 2022
Mich hat schon immer die These fasziniert, dass es sich bei der Märchenfigur Frau Holle um eine alte germanische oder gar steinzeitliche Göttin handeln könnte, die das Christentum überlebte, indem sie in religiös unverdächtiger Weise in die Märchenwelt einzog. Von dieser These ausgehend, frage ich mich bei vielen Märchen, Sagen und Legenden, ob sich vielleicht ein paar antike Überbleibsel in ihnen verstecken mögen. Ausgehend von meiner Heimatregion, dem Kreis Düren und seiner direkten Umgebung, möchte ich heute zwei Geschichten vorstellen, die mir diesbezüglich besonders interessant erscheinen.
Beginnen wir mit den Geschichten um Gression, das ich etwas effekthascherisch in der Überschrift in Anlehnung an die Aachener Nachrichten als ein „rheinisches Atlantis“ bezeichnet habe. Wie der Vergleich mit Atlantis natürlich sofort nahelegt, handelt es sich bei Gression, das auch Gressiona, Gressionau oder Grasigrone genannt wird, um eine einst blühende Ortschaft, die dann plötzlich untergegangen bzw. verschwunden sein soll. Je nach Überlieferung soll Gression entweder einem feindlichen Angriff zum Opfer gefallen, im Erdboden versunken oder in Form einer Sintflut vernichtet worden sein, wobei die Zerstörung teilweise als göttliche Strafe für unangebrachtes Verhalten der Bewohner der Stadt betrachtet wird. Zeitlich werden Gression und seine Zerstörung je nach Erzählung in eine vorgeschichtliche Zeit, in die Spätantike oder in die frühe Neuzeit eingeordnet. Die Bezüge zur Spätantike ergeben sich aus der Nennung von Römern und Heiden und würden eine Vernichtung der Stadt in den Wirren der Völkerwanderung nahelegen. Was die geographische Lokalisierung angeht, steht der gesamte Raum zwischen Aachen und Köln zur Debatte. Aufgrund der Namensähnlichkeit mit Gressenich bei Stolberg (im Rheinland), wird dieser Ort gerne mit der mythischen Siedlung in Verbindung gebracht, zumal auch verschiedene Orte der Nachbarschaft in den Sagen Bezüge zu Gression aufweisen. Was ich hier zusammengetragen habe, entspricht einer Zusammenfassung der Gression-Sagen in der Wikipedia. Wenn ich richtig sehe, hat Heinrich Hoffmann 1914 eine erste Sammlung der Erzählungen zu Gression vorgelegt.[1] Wenn mir Hoffmanns Buch vorliegt, werde ich noch einmal ausführlicher auf Gression zu sprechen kommen.
Photo: Michael Kleu
In Mira Lobs „Das Eifeler Märchenbuch. Sagen, Legenden und Märchen aus der Eifel neu erzählt“ bin ich auf eine spannende Geschichte mit dem Titel „Die Eifelriesen“ gestoßen, die aus Eiserfey bei Mechernich stammt. Hier geht es um den ebenso unsympathischen wie auch gefährlichen Riesen Kakus, der südlich von Eiserfey beim Mechernicher Stadtteil Dreimühlen in einer Höhle gelebt und dort sein Unwesen getrieben haben soll, bis aus Frankreich ein weiterer Riese namens Herkules kam, um nach einer attraktiven Riesenfrau zu suchen. Es kommt schließlich zu einem Zweikampf, der letztlich für beide Riesen tödlich endet.
Mira Lob führt dieses Märchen in einem kurzen Kommentar auf eine Vermischung römischer Mythen mit dem Volksglauben der Eifelbewohner zurück. Außerdem weist sie darauf hin, dass sich der Name Kakus vom altgriechischen kakós (κακός) ableitet, was „schlecht“ bzw. substantiviert „der Schlechte“ bedeutet, während der Riese Herkules keine nennenswerten Parallelen zu seinem antiken Namensvetter aufweise. Ersteres ist sicherlich richtig (s.u.), doch lässt sich zu Herkules noch wesentlich mehr sagen, was in dem Märchenbuch vermutlich aus Platzgründen nicht möglich war. Denn in der römischen Mythologie gibt es einen Riesen namens Cacus, der von Hercules in Folge eines Konflikts erschlagen wird. Auch hier befindet sich Hercules gerade auf Wanderschaft – er führt die Rinder des Geryon durch Italien – und auch hier taucht mit Caca, der Schwester des Cacus, in manchen Überlieferungen eine Frau auf, die sich in diesem Fall in Hercules verliebt und deshalb ihren Bruder verrät. Wie der Eifelriese Kakus lebt auch Cacus in einer Höhle an einem der Hügel Roms, entweder am Aventin oder am Palatin.
Die Geschichte vom Kampf des Hercules gegen den Riesen Cacus scheint erst aus augusteischer Zeit zu stammen, während in der älteren Überlieferung von einem Kampf des Hercules gegen einen etruskischen Feldherren namens Cacus die Rede ist. Manches deutet darauf hin, dass es ursprünglich ein fast in Vergessenheit geratenes Götterpaar Cacus und Caca gab, wobei Cacus aufgrund der Ähnlichkeit seines Namens zum altgriechischen kakós in späterer Zeit dann negativ verstanden und in ein Monster verwandelt wurde, während Hercules durch seinen Kampf mit dem etruskischen Feldherren in die Geschichte miteingewoben wurde. Somit scheinen sich hier bereits einige voneinander unabhängige Erzählstränge miteinander vermischt zuhaben, bevor die ganze Geschichte dann in der Eifel noch einmal neuinterpretiert wurde.[2]
Spannend ist nun natürlich die Frage, wie der Kampf des Hercules gegen Cacus in die Eifel einzog. Man könnte an römische Legionäre und Siedler denken, die diesen Mythos mit ins Rheinland brachten, wobei das gewaltige Höhlensystem bei Dreimühlen, in dem Kakus gelebt haben soll, von römischer Mythologie geprägte Menschen an die Höhle des römischen Cacus erinnert haben könnte. Immerhin zählt die Kakushöhle zu den größten offenen Höhlen der Eifel, was die Phantasie der Menschen sicherlich beflügelt hat. Gut möglich ist in diesem Zusammenhang, dass es hier ohnehin schon Erzählungen von Riesen gab, die dann eben mit dem römischen Mythos verschmolzen und zu einer neuen Geschichte geformt wurden. Denkbar ist natürlich auch, dass die Höhle bzw. der Kakusfels, in dem sie sich befindet, schon damals einen Namen trug, der Assoziationen mit dem Cacus-Mythos weckte. Es wäre jetzt natürlich meine Lieblingsinterpretation, dass sich diese Erzählung dann je nach Auftreten zwischen 1.500 und 2.000 Jahre im Volksmund gehalten hat, doch ist es vermutlich wahrscheinlicher, dass die Geschichte vielleicht erst im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit in der Eifel aufgegriffen wurde und dementsprechend wesentlich jünger ist. Einerseits erscheinen mir 1.500 Jahre für eine rein mündliche Überlieferung recht lang zu sein, während die Erzählung andererseits vielleicht durchaus „simpel“ genug ist, um einen solchen Zeitraum zu überdauern. Wie schon bei Gression muss ich auch hier die ältesten Schriftzeugnisse heranzuziehen versuchen, um zu überprüfen, ob sich dazu etwas Genaueres sagen lässt. Übrigens gibt es auch bei Eschweiler eine Landschaft namens Korkus, die ebenfalls mit Cacus in Verbindung gebracht wird, was damit zusammenhängen könnte, dass dieser ein Sohn des Gottes Vulcanus ist und in dieser Region schon seit vorrömischer Zeit Bergbau betrieben wurde.
Wie sich an den beiden oben besprochenen Beispielen zeigt, können auch Märchen, Sagen und Legenden, die ja auch zur Phantastik zählen, für mein Projekt sehr ergiebig sein, indem sie einerseits antike Mythen aufgreifen, andererseits aber auch mit realen Ereignisse der Alten Geschichte in Verbindung stehen können. Diesbezüglich hat mir immer der Anfang von Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Verfilmung sehr gefallen, wo es heißt: “And some things that should not have been forgotten were lost. History became legend. Legend became myth.“ Dann lasst uns mal sehen, was wir zukünftig noch alles an Antikenrezeption in Märchen, Sagen und Legenden finden können.
[1] Heinrich Hoffmann: Zur Volkskunde des Jülicher Landes, Teil 2: Sagen aus dem Indegebiet, Eschweiler 1914. Der erste Band von 1911 widmete sich den Sagen aus dem Rurgebiet. Eine Inhaltsübersicht findet sich hier.
[2] Zu Cacus in der römischen Mythologie vgl. Fr. Graf: Art. Cacus, in: DNP
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Sehr geehrter Herr Kleu,
Meinen ganz herzlichen Dank für diesen wunderbaren Artikel bzw. für den so fundierten und reichhaltigen Kommentar zu der Geschichte der Eifelriesen aus meinem Buch.
Es ist mir eine Ehre, es an dieser Stelle beachtet und aufgegriffen zu finden und überaus interessant Ihre Erforschung darüber zu lesen.
Die Verbindung von Märchen, Mythen und Sagen unserer Heimat mit historischen Fakten und Überlieferungen hat mich schon immer besonders angezogen. Und in der Tat: in einem Märchenbuch ist dafür leider nur sehr begrenzt Platz. Umso schöner, die Thematik nun hier noch einmal aufgegriffen zu sehen.
Schon nach den ersten Sätzen des Artikels bzgl. Frau Holle breitet sich ein warmes Lächeln in meinem Gesicht aus, denn diese Betrachtungsweise spricht mir aus der Seele und fängt mein ganzes Interesse.
Da Riesen auch in der Mythologie der Kelten vorkommen, wanderte ich gedanklich schon auf den vergessenen Pfaden der Kelten und Germanen, zumal die Riesen mir an mehreren Stellen bzw. Geschichten der Eifel begegneten. Bzgl. Kakus kann man dessen griechisch-römischen Ursprünge aber sicher nicht besser herleiten als hier geschehen.
Die Untersuchung um Gression finde ich auch sehr spannend und lässt mich an die Sage von Siegfried dem Drachentöter und den Nibelungenschatz denken, die mein Großvater mir so oft erzählt hat.
Das Motiv der Bestrafung und dem Untergang einer Stadt erinnert mich wiederum an den Untergang des Schlosses im Dauner Maar, von dem ich in meinem Buch erzähle. Auch hier geht ein Hofstaat ebenso plötzlich unter, nachdem ihre Herrscher großes Unrecht begangen haben.
Ein sehr faszinierendes Forschungsgebiet sind und bleiben die alten, lokalen Geschichten in jedem Fall auch für mich.
Das einzige, das ich an dieser Stelle ein wenig bedauere ist, dass ich mich nicht mehr selbst als Geschichts-Studentin einschreiben kann, da ich bereits an anderer Stelle meinen Einsatz gefunden habe.
Mit herzlichen Grüßen,
Mira Lob