Auf unserer kleinen Reise durch die Entwicklungsgeschichte der DC-Superheldin Wonder Woman haben wir zunächst mit einem grundlegenden Überblick begonnen, bevor wir uns darauf aufbauend das Heft Nr. 1 der Wonder-Woman-Comicreihe aus dem Jahr 1942 genauer angeschaut haben.
Heute springen wir fast zwei Jahrzehnte weiter ins Jahr 1959 und betrachten, wie die Erzählung The Secret Origin of Wonder Woman in Heft Nr. 105 die Ursprünge der Amazonen-Prinzessin Diana weiterausbaut und dabei auch durchaus erheblich von der in Heft Nr. 1 erzählten Geschichte abweicht.
Während die Erzählungen in Heft Nr. 1 noch von den ursprünglichen Wonder-Woman-Erfindern Elizabeth Holloway Marston und William Moulton Marston stammten, hat Robert Kanigher die Geschichten aus Heft 105 geschrieben.
The Secret Origin of Wonder Woman
Der Fokus der Geschichte liegt auf der jungen Wonder Woman, weshalb unter der Überschrift der Zusatz A Wonder Girl Story vermerkt ist.
Im ersten Panel befinden wir uns in den Gemächern der Amazonenkönigin Hippolyta. Als Zeitangabe wird der Leserschaft mitgeteilt, dass sich die gezeigten Ereignisse vor mehreren Jahrhunderten ereignet haben („centuries ago“).
Wonder Woman selbst ist nicht zu sehen, da sie noch ein Baby ist und in einer muschelförmigen Wiege liegt, was natürlich – man denke nur an Botticellis Gemälde Die Geburt der Venus (ca. 1485/86) – auf die Göttin Aphrodite anspielt.
Die Gaben der vier Gottheiten
Diese erscheint dann auch sogleich, um Hippolyta für ihre zahlreichen gerechten Taten zu belohnen, indem sie deren Tochter Diana mit außergewöhnlicher Schönheit versieht. Es folgen die Gottheiten Athena, Mercurius (Merkur bzw. griechisch Hermes) und Hercules, die dem Kind entsprechend ihrer jeweiligen Eigenschaften große Weisheit, enorme Geschwindigkeit sowie gewaltige Körperkraft verleihen, wobei Merkur und Hercules Diana sogar explizit mit Fähigkeit versehen, die die eigenen übertreffen.
Die Gottheiten treten alle in goldener Farbe auf und sind von einem vibrierenden Schein umgeben. Sie sind jeweils so dargestellt, dass die Leserschaft sie auch ohne nähere Erläuterung schnell erkennen kann. So tragen Athena und Mercurius ihre charakteristischen Helme, während Hercules bärtig und in einem Löwenfell gekleidet erscheint. Aphrodite ist schließlich durch besondere Schönheit gekennzeichnet.
Königin Hippolyta sagt nach dem Abgang der Gottheiten zu Baby Diana, dass sie nun schön wie Aphrodite, weise wie Athena, flinker als Mercurius und stärker als Hercules sei, weshalb aus ihr ein Wonder Girl werden würde. Allerdings dürfe sie diese Kräfte später ausschließlich im Sinne der Gerechtigkeit anwenden.
Auf nach Paradise Island!
Jahre später sehen wir Hippolyta und einige andere Frauen vor Verzweiflung weinen, da alle Männer in Kriegen gefallen sind. Auf einer Versammlung der Amazonen beschließt die Königin, ein Schiff zu bauen, das sämtliche Frauen der Gemeinschaft an einen Ort bringen soll, der sich weit entfernt von den verheerenden Kriegen befindet.
Tatsächlich kann das Schiff, das mit Rammbock und aufgemaltem Auge durchaus wie ein griechisches Kriegsschiff aussieht, bereits am nächsten Tag in See stechen, da Wonder Girl Diana es dank ihrer besonderen Kräfte und Fähigkeiten über Nacht mal flott allein auf Kiel gelegt und fertiggestellt hat.
So begeben sich die Amazonen auf die Suche nach einer Insel, die weit entfernt von den üblichen Schifffahrtsrouten liegt. Unterwegs sehen sich die Frauen mit einer ganzen Reihe an Gefahren konfrontiert, wobei es Wonder Girl in jedem einzelnen Fall gelingt, das Problem im Alleingang zu lösen. Schließlich erreichen sie eine Insel, die sie auf den Namen Paradise Island taufen.
Hier erscheint die Göttin Athena, die den Amazonen erklärt, dass fortan nicht mehr altern werden, insofern sie die Insel nicht verlassen. Bei Diana wird dieser Alterungsstopp erst einsetzen, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht hat. Die Amazonen errichten in der Folge eine Stadt und Wonder Girl erhält eine Schulbildung, die ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten entspricht.
Die Unterschiede zur Darstellung in Wonder Woman Nr. 1
The Secret Origin of Wonder Woman erzählt uns eine Geschichte, die in vielerlei Hinsicht von der Erzählung in Heft Nr. 1 abweicht. So handelt es sich nun bei den Amazonen nicht mehr um übermenschliche Kriegerinnen, die die Göttin Aphrodite aus Lehm geschaffen hat, sondern um „gewöhnliche“ Frauen, die durch Kriege ihre Männer verlieren. Es wird nicht explizit gesagt, doch scheint Diana dementsprechend auf dem herkömmlichen Wege gezeugt und nicht wie in Heft Nr. 1 von Hippolyta aus Ton geformt worden zu sein.
Während Hercules in der Geschichte von 1942 als Antagonist auftritt, ist er nun ein gutmütiger (Halb-)Gott, der Diana ungeheure körperliche Kraft verleiht. So ziehen sich die Amazonen dann auch nicht mehr nach einem Sieg über den Halbgott und sein griechisches Heer nach Paradise Island zurück, sondern beschließen nach dem Tod ihrer Männer, an einem fernen Ort ein neues Leben anzufangen.
Schließlich bleibt noch festzuhalten, dass diesmal nicht Aphrodite die Amazonen nach Paradise Island führt, sondern sie die Insel von selbst erreichen und dort dann von Athena in Empfang genommen werden.
Griechisch-römischer Namensmix
Treu bleibt sich die Reihe hinsichtlich des munteren Durcheinanderwerfens griechischer und römischer Bezeichnungen, das wir bereits in den früheren Beiträgen ausführlich besprochen haben.
Mein Fazit zu The Secret Origin of Wonder Woman
Mir gefällt richtig gut, dass Diana in dieser Erzählung Gaben der vier genannten Gottheiten erhält. Außerdem mag ich die Streichung des grundlegenden Konflikts zwischen Aphrodite und Mars bzw. Ares. Weniger gut gefällt mir, dass die Amazonen nun keine Schöpfungen der Aphrodite mehr sind, sondern verwitwete Frauen, die sich eine neue Existenz fern von den Kriegen ihrer Heimat aufbauen möchten. Statt starker weiblicher Akteure präsentiert und das Comic dadurch eine viel zu stark von Männern geprägte Geschichte.
Hinzu kommt, dass ich The Secret Origin of Wonder Woman selbst für ein Superhelden-Comic an vielen Stellen als arg übertrieben empfinde. Wonder Girls Fähigkeiten überstrapazieren in dieser Erzählung für mich schlichtweg das Maß des Glaubwürdigen.
Daher bleibe ich in meinem persönlichen Wonder-Woman-Universum bei der Ursprungsgeschichte aus Heft Nr. 1 und betrachte The Secret Origin of Wonder Woman als alternative Variante, aus der mir nur die Gaben der Gottheiten gefallen.
Nichtsdestotrotz bleibe ich sehr gespannt, wie sich Dianas Ursprungsgeschichte in den weiteren Comics entwickeln wird.
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