Veröffentlicht: 21. Dezember 2017 – Letzte Aktualisierung: 15. Februar 2022
Von Troja über Shakespeare zu Cyborgs und kleinen grünen Männchen
Dan Simmons‘ Bücher Ilium (2003) und Olympos (2005) sind eine faszinierende Mischung aus dem Trojanischen Krieg, Shakespeares The Tempest, Proust, Cyborgs und kleinen grünen Männchen. Hört sich verrückt an, zählt aber sicherlich zu dem Besten, was die Science Fiction zu bieten hat, besonders im Hinblick auf die Antikenrezeption.
Kommen wir zunächst zum Inhalt, den ich nur kurz skizzieren werde, um zukünftigen Leserinnen und Lesern nicht die Spannung zu nehmen:
Eine grobe Zusammenfassung
In der Zukunft lassen Wesen in Form der Olympischen Gött*innen auf dem Mars den Trojanischen Krieg nachspielen, wobei sie verschiedene Altertumswissenschaftler*innen wiederbeleben, damit diese den Krieg unter Anleitung der Musen dokumentieren und Abweichungen von der antiken Überlieferung festhalten. Diese Expertinnen und Experten beobachten also das ihnen aufgrund ihrer ursprünglichen Berufe bestens vertraute Geschehen, wobei sie mit Hilfe der den „Gött*innen“ zur Verfügung stehenden Technik in verschiedene Rollen schlüpfen können, jedoch nicht aktiv in die Handlung eingreifen.
Thomas Hockenberry, Ph.D.
Einer dieser wiederbelebten Fachmänner ist Dr. Thomas Hockenberry, ein klassischer Philologe aus dem 21. Jahrhundert n.Chr., der in innergöttliche Intrigen verwickelt wird und dadurch seine Position als reiner Zuschauer verlässt. So kommt es, dass er sich auf eine Affäre mit Helena einlässt, der durch die Prophezeiungen Kassandras bewusst ist, dass der Krieg nur mit dem Untergang Trojas und schrecklichen Schicksalen für die dort lebenden Menschen enden kann. Gemeinsam mit anderen berühmten Frauen des trojanischen Sagenkreises überzeugt Helena Hockenberry, aktiv in die Ereignisse einzugreifen, um dieses Ende zu verhindern.
Tatsächlich gelingt es Hockenberry aufgrund seines Fachwisssens, den Trojanischen Krieg vollständig auf den Kopf zu stellen, sodass letztlich Achilles ein Bündnis mit Hektor schließt und Achaier (Griechen) und Trojaner gemeinsam den Gött*innen den Krieg erklären statt einander bis zur Zerstörung Trojas zu bekämpfen. Derweil müssen sich auf einer postapokalyptischen Erde die letzten Menschen mit Hilfe einer weiblichen Variante des Ewigen Judens aus der Vormundschaft von Robotern befreien und wieder lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, während weit fortgeschrittene Cyborgs aus fernen Ecken des Sonnensystems zurückkehren müssen, um eine große Katastrophe zu verhindern.
Antikenrezeption auf sehr hohem Niveau
Die Antikenrezeption erfolgt in Simmons‘ Büchern in einer Intensität und auf einem Niveau, wie man es wohl nur sehr selten vorfindet. Der Autor hat sich äußerst intensiv und durchaus wissenschaftlich in die Überlieferung zum Trojanischen Krieg und die damit verbundene Forschungsliteratur eingearbeitet, wie man besonders schön an der folgenden Szene erkennt, die von Sarah Annes Brown in einem Aufsatz zur Antikenrezeption in der Science Fiction (s.u.) hervorgehoben wurde:
Phoinix im Zelt des Achilles
Um mit Achilles reden zu können, schlüpf Hockenberry in die Rolle von dessen altem Erzieher Phoinix, weil er weiß, dass dieser in der Ilias gemeinsam mit Ajax und Odysseus im Zelt des Achilles ein wichtiges Gespräch führen wird. In diesem Kontext lässt Simmons Hockenberry über die Sonderbarkeit dieser Szene sinnieren, da es grundsätzlich schon einmal ungewöhnlich ist, dass dem alten Phoinix, der bis zu dieser Stelle überhaupt nicht in der Ilias erwähnt wird, hier gemeinsam mit Ajax und Odysseus eine prominente Rolle zufällt.
Hinzu kommt ein sprachliches Problem, da Homer (oder wer auch immer) an dieser Stelle ein Verb in einer Form verwendet, die sich auf zwei Akteure bezieht, weshalb es sonderbar ist, dass es mit Ajax, Odysseus und Phoinix drei handelnde Personen gibt. Zwar macht sich Hockenberry Gedanken über dieses Forschungsproblem, doch hat er letztlich andere Sorgen, da es derzeitig sein Ziel ist, mit Achilles zu sprechen. Doch zu seiner Überraschung wird Phoinix abweichend vom Text der Ilias nicht zum Gespräch mit Achilles eingeladen – was aus oben genannten Gründen auch durchaus zu erwarten wäre.
Hockenberry muss nun schnell reagieren und behauptet, Agamemnon habe kurzfristig entschieden, dass er an der Runde teilnehmen sollte. Mit Hilfe dieses Kniffs verwebt Simmons seine Geschichte auf das Engste mit der Ilias, indem er diese sonderbare Stelle in der homerischen Überlieferung eben durch das Eingreifen Hockenberrys erklärt, wodurch letztlich die paradox erscheinende Situation entsteht, dass Simmons Werke den oder die Dichter der Ilias beeinflussten.
Niemand? Merk ich mir!
Eine weniger komplexe, aber dafür sehr humorvolle Stelle ist ähnlich konzipiert, wie Sarah Annes Brown mit Recht anmerkt. Hier trifft Odysseus auf einen Cyborg, der mitteilt, dass er „no man“ sei. Diese Aussage gefällt Odysseus, der verspricht, sich dies zu merken. Bekanntlich gibt sich der homerische Odysseus in der Odyssee als „Niemand“ (no man) aus, was nicht unwichtig für den weiteren Handlungsverlauf ist.
Die schrecklichen Augen der Athene – oder des Achilles?
Auf eine weitere besonders schöne Stelle in Ilium und Olympos hat Gaël Grobéty in einem Aufsatz hingewiesen. Es geht um die Stelle zu Beginn der Erzählung, in der es zum Zerwürfnis zwischen Achilles und Agamemnon kommt und ersterer letzteren zu töten droht. Wie in der Ilias erscheint auch in Dan Simmons‘ Ilium in dieser Situation die Göttin Athene, um Achilles von einer Gewalttat abzuhalten.
In der Regel steht in den Übersetzungen, dass Achilles Athene anblickt und erkennt, woraufhin ihre schrecklichen Augen angesprochen werden. Tatsächlich besteht aber keine grammatikalische Notwendigkeit, die schrecklichen Augen auf Athene zu beziehen. Vom Wortlaut her würden sie auch zu Achilles passen (Ilias, 1,199-200). So lässt Simmons stattdessen Achilles Athene einen tödlichen Blick zu werfen, der Hockenberry schließlich auf die Idee bringt, den jungen Helden gegen die Gött*innen aufzuhetzen.
Simmons thematisiert also ein sprachliches Problem des Texts und nutzt diese für eine zentrale Idee seiner Erzählung!
Fazit: Dan Simmons‘ Ilium und Olympos
Solche Feinheiten erschließen sich natürlich nur denjenigen, die sich schon einmal intensiver mit dem Trojanischen Krieg auseinandergesetzt haben. Nichtsdestotrotz ist im Allgemeinen kein großes Hintergrundwissen für Ilium und Olympos notwendig, da alle wichtigen Zusammenhänge in verständlicher Form erklärt werden. So kann man letztlich sagen, dass man bei der Lektüre dieser gelungenen Science Fiction-Romane zahlreiche Bezüge zum Trojanischen Krieg, zu Shakespeare und zu Proust genießen kann oder eben ganz nebenbei auf unterhaltsame Weise einiges darüber lernt. Und ganz nebenbei sind Ilium und Olympos die besten Beispiele zur Widerlegung des Vorurteils, dass Science Fiction eine nur minderwertige Literaturform sei.
Wer nun denkt, dass die Geschichte interessant sein könnte, erfährt in unserer Podcastsendung zu Ilium noch wesentlich mehr zu dem Thema!
Weiterführende Literatur:
Sarah Annes Brown: ‚Plato’s Stepchildren‘: SF and the Classics, in: L. Hardwick/Chr. Stray (Hgg.): A Companion to Classical Receptions, Oxford e.a. 2011, S. 415-427.
Gaël Grobéty: Revised Iliadic Epiphanies in Dan Simmons’s Ilium, in: Rogers, B.M./Stevens, B.E. (Hgg.): Classical Traditions in Science Fiction, Oxford/New York 2015, S. 263-279.
Arnaud Laimé: De la marge à la trame. Figures du scholiaste dans Ilium et Olympos de Dan Simmons, in: Bost‐Fiévet, M./S. Provini, S.: L’Antiquité dans l’imaginaire contemporain: Fantasy, science fiction, fantastique, Paris 2014, S. 117-133.
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Hallo!
Angezogen vom Namen des Autors habe ich gerade mit großem Interesse die Rezension zu beiden Büchern gelesen. Dan Simmons ist mir dank seiner Terror ein Begriff und dieses Buch habe ich wirklich sehr gern gelesen! Die Mischung der Thematik hier ist irgendwie wunderbar verrückt, so dass mein Interesse geweckt ist. – Auch wenn ich noch nicht hundertprozentig weiß, wie ich es genau finde. 😀
Liebe Grüße!
Gabriela
Liebe Gabriela,
schön, wenn es Dich neugierig gemacht hat! 😉
Die Bücher sind sicherlich nicht einfach, aber irgendwie lohnt es sich, denke ich. Die Thematik muss einem aber natürlich liegen.
Die anderen Bücher von Simmons habe ich noch gar nicht gelesen. Da muss ich aber bald mal mit anfangen. Terror hatte ich noch gar nicht auf dem Schirm.
Viele Grüße
Michael
Oh, ich denke, mit Terror machst du sicher nichts falsch 🙂 Die Atmosphäre war großartig, das Buch ist mir auch nach so vielen Jahren noch sehr gut im Gedächtnis geblieben.
Lieber Michael Kleu, ich finde Ihren Blog wirklich großartig. Antike und Science Fiction – was für eine geniale Mischung. Ich lerne hier sehr viel. Wie es im Leben dann manchmal so spielt: Aufgrund dieses Artikels hier bin ich auf Dan Simmons gestoßen, der mir vorher unbekannt war. Die Hyperion-Gesänge und Endymion stehen seither auf meinem Wunschzettel. Dann schaute ich über Ostern „The Terror“ auf Amazon Prime und siehe da – die Story ist von Dan Simmons…
Und weil die Story von Dan Simmons ist, gab es in den ersten beiden Folgen schon einen Verweis auf Caesars Überschreiten des Rubicons, auf Herodots Historien und auf die Argonautensage. Wenn das so weitergeht, schreit das nach einem neuen Artikel! 😉
Vielen Dank für die positive Rückmeldung, über die ich mich sehr freue!