Veröffentlicht: 14. Mai 2018 – Letzte Aktualisierung: 8. Februar 2022
Phlegon stammte aus einer kleinasiatischen Stadt namens Tralleis (heute Aydin) und lebte im 1. und 2. Jh. nach Christus, wobei wir aufgrund seiner Schriften wissen, dass er nicht vor 137 n.Chr. gestorben sein kann. Phlegon war ein gebildeter Sklave, der vom Kaiser Hadrian (117-138 n.Chr.) gekauft und später freigelassen worden war. Womöglich war Publius Aelius Phlegon, wie er nach seiner Freilassung mit vollständigem Namen hieß, sogar als Hofschriftsteller für Hadrian tätig.[1]
Als Autor beschäftigte sich Phlegon mit vielerlei sehr unterschiedlichen Thematiken. So verfasste er u.a. Werke über Geschichte, Olympiasieger, römische Feiertage oder die Insel Sizilien. Für unsere Zwecke ist aber wohl interessanter, dass Phlegon auch sehr gerne über ungewöhnliche Dinge wie z.B. besonders langlebige Menschen oder wundersame Sensationsgeschichten schrieb. Letztere sind im „Buch der Wunder“ zusammengetragen, das uns größtenteils erhalten ist und mit dem wir uns im Folgenden ausführlicher beschäftigen wollen. Als Edition nutze ich dabei die unten angegebene Übersetzung von Kai Brodersen, von dessen Einleitung ich auch die Überschrift für diesen Artikel entliehen habe.
Auch wenn die Versuchung groß ist, Phlegons Geschichten an dieser Stelle ausführlich wiederzugeben, bemühe ich mich, dies nur in wenigen Fällen zu tun und ansonsten lediglich die Phänomene als solche aufzulisten, um die geneigte Leserschaft dazu zu ermuntern, Phlegons Text selbst zur Hand zu nehmen, den Ihr bestimmt in der ein oder anderen örtlichen (Universitäts)-Bibliothek finden könnt.
Photo: Michael Kleu
Wovon handeln Phlegons Geschichten also? Eine der längeren Erzählungen berichtet von einer jungen Frau aus Amphipolis, die Philinnion hieß und etwas weniger als 6 Monate nach ihrem Tod Nacht für Nacht zur selben Uhrzeit einen jungen Mann aufsucht, der im Haus ihrer Eltern zu Gast ist und ihr Begehren geweckt hat. Als die Eltern der jungen Frau ihre Tochter eines Nachts bei einem ihrer Besuche überraschen, stirbt sie nach einer kurzen Unterhaltung erneut. Nachdem sich das Geschehen in der Stadt herumgesprochen hat, öffnet man das Grab der Verstorbenen, in der sich keine Gebeine der jungen Frau finden lassen, dafür aber Geschenke, die sie von ihrem jungen Geliebten bei ihren nächtlichen Besuchen erhalten hat. Auf Anraten eines Sehers werden verschiedene religiöse Handlungen durchgeführt, bevor die Leiche außerhalb der Stadtmauern verbrannt wird, woraufhin der Geliebte dem Wahnsinn verfällt und sich schließlich selbst tötet. Wie Brodersen wohl mit Recht anmerkt, handelt es sich bei dieser Erzählung, die in der Mitte des 4. Jh. v.Chr. angesiedelt ist, um nichts Geringeres als die älteste uns bekannte Gespenstergeschichte im literarischen Sinne (S. 10).
Eine weitere Erzählung berichtet von einem hohen Politiker des Aitolischen Bundes, der kurz nach seiner Hochzeitsnacht verstirbt. Als seine Frau 9 Monate später einen Hermaphroditen gebiert, also ein Kind mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsorganen, ist die Aufregung groß und man überlegt in der Volksversammlung u.a., Frau und Kind außer Landes zu bringen und dort zu verbrennen. Da erscheint der Geist des Verstorbenen in der Versammlung und verkündet, im Auftrag der Götter der Unterwelt zu den Lebenden zurückgekehrt zu sein. Wenn man ihm das Kind friedlich übergebe, werde dies großen Schaden vom Volk abwenden. Wenn man dem Kind hingegen etwas antäte, würde großes Unheil geschehen. Die Versammlung will sich nicht zügig genug darauf einlassen, woraufhin der Geist das Kind zerreißt und bis auf den Kopf verschlingt, bevor er sich in Luft auflöst. Der Kopf des Kindes spricht schließlich eine Prophezeiung aus, die sich ein Jahr später bewahrheiten wird.
Eine dritte Geistergeschichte ist mit der Schlacht bei den Thermopylen 191 v.Chr. zwischen Antiochos III. (dem Großen) und den Römern verbunden, in deren Folge einer der Gefallenen aufersteht und Prophezeiungen kundgibt, die wiederum zu weiteren Prophezeiungen führen, die sich letztlich bewahrheiten.
Es folgen mehrere größtenteils wesentlich kürzere Geschichten, die sich mit den Themengebieten Geschlechterwechsel und Androgynität befassen. Andere Erzählungen behandeln Riesen, die jedoch nie in lebendiger Form auftreten, sondern deren Gebeine und Zähne nach Erdbeben oder bei Baumaßnahmen gefunden werden, was vielleicht an Dinosaurierknochen o.ä. denken lässt. Von den Riesen geht es zu Monstergeburten, die z.B. Kinder mit mehreren Köpfen thematisieren. Auch schwangere Männer finden sich ebenso in Phlegons Werk wie Frauen, die ungeheure Zahlen an Kindern gebären. Die Aufzählungen enden schließlich mit Menschen, die ungewöhnlich schnell erwachsen wurden, und mit Wunderwesen.
Spannend ist, dass Phlegon bei vielen seiner „Berichte“ ganz konkrete Quellen und Zeitangaben liefert, wobei gelegentlich auch bekannte antike Persönlichkeiten in einen Bezug zur Geschichte gebracht werden, wodurch dem Ganzen ein besonderer Anstrich von Authentizität verliehen wird. Gleichzeitig deuten die Quellenangaben aber wohl darauf hin, dass Phlegon sich die Erzählungen nicht ausgedacht, sondern vielmehr eine Sammlung bereits vorhandener Geschichten erstellt hat.
Nun haben wir von Geistern gehört und auch von vielerlei anderen wundersamen Dingen. Was hat dies aber jetzt mit den in der Überschrift angekündigten Vampiren zu tun? Die Geschichte der jungen Philinnion, die jede Nacht den Gast im Haus ihrer Eltern aufsuchte, wurde 1666 von Johannes Praetorius (Hans Schultze) aufgegriffen, bevor Johann Wolfgang von Goethe dasselbe 1797 in seinem Gedicht „Die Braut von Korinth“ tat, in dem die Verstorbene dann mit vampirischen Zügen versehen ist. 1824 ließ sich auch Washington Irving von Philinnion inspirieren, als er „The Adventure of the German Student“ schrieb, was Brodersen als Neubegründung der Geistergeschichte in der Literatur des 19. Jh. bezeichnet (S. 11). Dementsprechend liegt hier ein schöner Fall von gut nachvollziehbarer Antikenrezeption vor. Genaugenommen haben wir also bei Phlegon noch gar keine Vampire, sondern lediglich eine Vorlage für Goethes „Vampirin“, wobei aber die nächtliche Verführung durch die Untote zumindest schon einmal in die noch heute gängige Richtung weist. Deshalb habe ich das Aufmerksamkeit erheischende Wort zwar im Titel belassen, aber in Anführungszeichen gesetzt und mit dem Präfix „proto“ versehen.
Manche der hier geschilderten Geistergeschichten sowie verschiedene weitere finden sich übrigens in einem Platon-Kommentar des Proklos (5. Jh. n.Chr.), den ich mir bei Gelegenheit auch einmal ansehen sollte.
[1] Mit der Freilassung übernahmen Sklaven bestimmte Namensbestandteile derjenigen, die sie freigelassen hatten. Da Hadrian mit vollem Namen Publius Aelius Hadrianus hieß, gingen das Praenomen (Vorname) und das Nomen gentile (Familienname) auf seine Freigelassenen über, deren ursprüngliche Rufnamen dann zum Cognomen wurden. Etwas ausführlicher wird dies hier erklärt.
Literatur:
K. Brodersen (Hg.): Phlegon von Tralleis. Das Buch der Wunder. Antike Sensationsgeschichten, Darmstadt 2001.
P.L. Schmidt: Art. Phlegon, in: DNP 9 (2000), 906.
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Oh … das ist aber eine wundervolle Inspiration.
Bei mir liegen zwar aktuell ein Haufen Bücher auf dem Stapel („Anbody out there“, „A higher Loyalty“ und der zweite Anne of Green Gables Band sind aktuell in der Mache), aber vermutlich lege ich das Buch der Wunder gleich auch mal obenauf … das klingt sehr interessant, in vielerlei Hinsicht.
Ich stelle fest, wenn ich meine Vampir-Chroniken damals gebaut habe, als ich noch Vampire leitete, habe ich teils auch Antike (mehr aber Rennaissance und frühe Neuzeit) rezipiert, ohne mir dessen so richtig bewusst zu sein … zumal’s schon angelegt war. Gerade solche Geschichten wie die der Philinnion habe ich gerne als missverstandene Frühauftritte von Nicht-Spielercharakteren deklariert, auch wenn … ich diese konkrete noch nicht kannte.
Das wurde mir erst gerade über diesen Beitrag so richtig bewusst …
Es ist ganz oft so, dass wir unbewusst antike Aspekte aufgreifen, z.B. weil wir etwas bei Shakespeare gelesen haben und nicht wissen, dass er es wiederum von Plutarch übernommen hat oder so ähnlich.
Letztlich ist die Antike halt so tief in unserer Kultur verwurzelt, dass wir so etwas oft gar nicht mehr wahrnehmen. Denk‘ z.B. mal daran, was die Namen unserer Wochentage und Monate bedeuten oder was die Apotheken draußen für ein Schild an der Tür hängen haben.
Das ist schon sehr spanned.
Die Äskulap-Natter ist mir als Schlangen-Phobikerin sehr bewusst 😉
Ich hatte als Kind oder Jugendliche drei oder vier übersetzte Sagenbände, darunter Herakles, die Odyssee und mindestens einen Sammelband übersetzt von Auguste Lechner. Das hat mich schon sehr beeinflusst. Viele Motive erkennt man ja dann auch überall wieder …
Ich glaube, ich muss das ein oder andere nochmal durchleuchten, was ich gebastelt habe.
Da bin ich mal gespannt!
Esist für mich immer eine ganz spannende Frage, ob „Kulturschaffende“ Antikenrezeptionen bewusst oder unbewusst einfließen lassen.
Zur Tethys, meiner Welt, in der auch mein bisher einziges öffentlich verfügbares Phantasie-Produkt spielt, habe ich es Dir in einem Kommentar schon geschrieben.
Beim Hermaphroditen und der Sirene in meiner New York Chronik war es teils unbewusst angelegt und dann ausgearbeitet, weil es so gut passte …
In der Chronik habe ich eine Sängerin und Tänzerin, die mit ihrer Stimme Böses tun kann, unter „Siren“ firmieren lassen – und es gibt eine Gestalt, die eine lange, lange Geschichte zwischen den Geschlechtern hinter sich gebracht hat, die teils den Hermaphroditen bedient, teils aber auch solche Dinge wie Lehm formen und Leben einhauchen und so.
Aber mir fällt noch ein: Ich müsste mal das in Wut geschriebene, bewusst Antike rezipierende Stückchen „Kronos“ Dir zuführen 😉 Das ist vielleicht sogar ein Schätzchen für Dich.
Klar, schaue ich mir gerne an!
Bei den Stichwörtern „wütende Frau“ und „Kronos“ habe ich eine „böse“ Vorahnung, um was es gehen könnte 😉