Veröffentlicht: 24. April 2018 – Letzte Aktualisierung: 8. Februar 2022
Ich habe schon viel zu lange keine Fachliteratur mehr vorgestellt und möchte das an dieser Stelle in Form von Ulf Abrahams „Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule“ nachholen. Ulf Abraham ist Professor am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Kultur und zählt die literarische Phantastik und ihre medialen Adaptionen im Deutschunterricht zu seinen Forschungsschwerpunkten. Dementsprechend ist es auch das Ziel des hier zu besprechenden Buches, die Verwendung literarischer Phantastik im Schulunterricht und daher auch in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung zu beleuchten.
In seiner Einleitung weist Abraham gleich zu Beginn darauf hin, dass das Genre der literarischen Phantastik eine Herausforderung für Literaturwissenschaft, Leseforschung und Literaturdidaktik darstelle, da sich die Leserschaft nicht auf bestimmte Alters- oder Zielgruppen konzentriere. Vielmehr erfreue sich die literarische Phantastik, die Abraham in der Tradition antiker Mythen und mittelalterlicher Epen sieht, einer allgemeinen Beliebtheit, was nicht zuletzt mit den erfolgreichen Verfilmungen einiger Klassiker wie „Der Herr der Ringe“ zusammenhänge. In seiner Einführung fasst Abraham den Begriff „Fantastik“[1] bewusst weit und weist in diesem Zusammenhang auf Unterschiede zu älteren Werken hin. So grenze man heute die einzelnen Unterkategorien der Phantastik (z.B. Science Fiction und Fantasy) nicht mehr so scharf voneinander ab wie dies in der älteren Forschung noch getan wurde. Hinzu komme, dass die Bedeutung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur enorm zugenommen habe, was sich dementsprechend in seiner Einführung widerspiegelt. Schließlich müsse teilweise auch das Medium Film (sowie weitere Nichtprintmedien) aus oben genannten Gründen in die Betrachtung einbezogen werden.
Photo: Michael Kleu
Bemerkenswert erscheint mir hinsichtlich der Einleitung noch, dass der Instanz der Familie laut Abraham in der phantastischen Literatur eine auffällige Bedeutung zukomme. Außerdem spricht sich der Autor dagegen aus, die Phantastik als eine Wirklichkeitsflucht zu betrachten. Vielmehr handle es sich eher „um den entwicklungspsychologisch notwendigen Aufbau einer Gegenwelt mit der Funktion eines Moratoriums als Rückzugsraum für das ‚Unerledigte'“ (S. 13), der sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene notwendig sei.
Im Anschluss befasst sich das erste Kapitel mit „Theorie(n) der Literarischen Fantastik“. Hier wird das Phantastische aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive vorgestellt, bevor es um die Rolle der Vorstellungsbildung und „Konzepte des Fantastischen seit Todorov“ geht. Das Kapitel endet schließlich mit der Betrachtung dreier Werke, deren Zugehörigkeit zur Phantastik diskutabel ist: Kafkas „Das Schloss“, Grass‘ „Die Blechtrommel“ und Süskinds „Das Parfum“.
Im zweiten Kapitel geht es dann um die „Kulturelle Praxis Literarischer Fantastik“, wobei sich das erste Unterkapitel auf „Historische Wurzeln und Blüten des Fantastischen“ konzentriert, womit wir dann auch zur Antike (s.u.) kommen, bevor im Anschluss daran das Mittelalter, die Renaissance, das 18. Jh., die romantische und die postromantische Phantastik sowie die Utopie behandelt werden. Aus naheliegenden Gründen konzentriere ich mich im Folgenden auf die knappen Überlegungen zur Antike:
Abraham unterstreicht, dass literarische Werke der Antike zwar keine phantastische Literatur im heutigen Sinne darstellen, die Wurzeln der phantastischen Literatur aber zweifellos nichtsdestotrotz in der Antike liegen. Eine wichtige Grundlage der Phantastik sieht Abraham dabei im antiken Mythos, wobei er Mythen als erzählerische „Bewältigung der Angst vor unerklärlichen Gewalten und der Imagination einer ordnenden (göttlichen) Macht“ (S. 65) betrachtet. Es folgen eine knappe Auflistung von phantastischen Elementen in Homers „Odyssee“ und Ovids „Metamorphosen“.
Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels geht es zunächst um die Entstehung der modernen Phantastik, bevor in Kapitel 2.3 das Verhältnis einzelner Unter-Genres wie Science Fiction oder Kinder- und Jugendliteratur zur Phantastik erläutert wird. Für die Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy erscheint mir dann Kapitel 2.4 wieder besonders interessant, in dem Leitmotive, Schlüsselfiguren und Dichotomien behandelt werden. Zu den Leitmotiven zählen dabei Reisen, Räume und Träume, während Außenseiter, Fremde, sprechende Tiere und Doppelgänger als Schlüsselfiguren bezeichnet werden. Im Rahmen der Dichotomien nennt Abraham Menschen und Monster, natürliche und manipulierte Zeit, Natur und Technik, Gut und Böse. Schließlich endet Kapitel 2 mit einer Vorstellung verschiedener Diskurse in der literarischen Phantastik, darunter z.B. pädagogische, politische und psychologische Diskurse.
Mit dem dritten Kapitel kommt Abraham bei der „Literarische[n] Fantastik in Schule und Hochschule“ an. Hier wird die Phantastik zunächst aus Sicht der Wirkungsforschung vorgestellt, bevor der Bildungswert und die Anschlussfähigkeit phantastischer Texte erläutert werden, was Abraham als eine „Didaktik der Fantastik“ betitelt.
In einem Anhang folgen schließlich verschiedene Verzeichnisse und Register sowie eine Synopse zu filmischen Adaptionen der im Buch behandelten Texte.
Wie meine knappe inhaltliche Zusammenfassung zeigt, erfüllt das Werk im Wesentlichen, was es im Titel verspricht. So handelt es sich um eine Einführung in die Phantastik in Literatur und Film, die für die Verwendung phantastischer Literatur an Schule und Hochschule gedacht ist. Für mein Projekt zur Antikenrezeption in Science Fiction, Horror und Fantasy war das Buch weniger ergiebig, was jetzt aber auch keine grundsätzliche Kritik sein soll, da ich nicht zu der vom Autor angesprochenen Zielgruppe zähle. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass die Einführung für Studierende der Germanistik oder anderer Literaturwissenschaften durchaus einen guten Einstieg in das Thema bietet. Für Fortgeschrittene dürften eher einzelne Details oder Literaturhinweise von Interesse sein.
Ulf Abraham: Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule (Grundlagen der Germanistik 50), Berlin 2012. ISBN 978 3 503 13715 2
Aufmerksam auf das Buch wurde ich durch den Treffpunkt Phantastik.
Aus einer anderen Perspektive wird das Buch von Simon Spiegel besprochen, der als Mitherausgeber der Zeitung für Fantastikforschung und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich tätig ist.
[1] Wenn ich Abraham wörtlich zitiere, folge ich seiner Schreibweise „Fantastik“, während ich andernfalls „Phantastik“ schreibe.
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Sehr schönes Ensemble im Bücherschrank. Das Spektrum von Playmobil über Stephen King zu Homer, Star Wars und wissenschaftlicher Literatur gefällt mir sehr.
Man muss auch mal zeigen, was man hat 😉
„Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.“
Erasmus von Rotterdam