Odysseus und Hektor in „Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow“
Der Roman Tomorrow, and Tomorrow and Tomorrow (2022) von Gabrielle Zevin handelt von Freundschaft und Computerspielen, wobei die Handlung auch ein paar spannende Rezeptionen der griechischen Mythologie aufweist.
SPOILERWARNUNG: Im Abschnitt Nomen est omen kommt ein Aspekt zur Sprache, der von größerer Bedeutung für die Handlung ist. Wenn Ihr Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow noch lesen möchtet, empfehle ich, den kleinen Abschnitt vorerst zu überspringen.
Die Handlung des Romans
Samson Mazur und Sadie Green lernen sich Ende der 1980er Jahre als Kinder im Krankenhaus beim gemeinsamen Spielen von Super Mario Bros. kennen, was letztlich zu einer von Höhen und Tiefen geprägten lebenslangen Freundschaft sowie der Gründung einer Firma zur Entwicklung von Computerspielen führt.
So dreht sich die Handlung von Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow einerseits um die sich immer wieder wandelnde persönliche Beziehung zwischen Sadie und Sam und andererseits um digitale Spiele, die sie auf ihrem gemeinsamen Lebensweg zunächst als Kinder spielen und später dann als erfolgreiches Entwicklerteam selbst entwerfen und auf den Markt bringen.1
Eine Grafik-Engine namens Ulysses
An der Universität lernt Sadie in einem Seminar für Spieleentwicklung den Kursleiter Dov Mizrah kennen, der durch ein Spiel namens Dead Sea berühmt geworden ist, für das er die wegweisende Grafik-Engine Ulysses entwickelt hat.
Dass diese Grafik-Engine die englische Schreibweise des Namens Odysseus trägt, ist dabei sicherlich kein Zufall. Denn einerseits ergibt sich aus dem Umstand, dass Dov Mizrahs Sohn Telemachus heißt (S. 147), ein persönlicher Bezug des Spieleentwicklers zum König von Ithaka.
Andererseits wird auch die Odyssee an zwei Stellen in Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow konkret angesprochen. Bei der ersten Erwähnung geht es um Marx, einen gemeinsamen Freund von Sadie und Sam, der sich für Erzählstrukturen interessiert und den beiden daher während der Entwicklung des ersten eigenen Spiels neben The Hero’s Journey auch die erneute (!) Lektüre der Odyssee empfiehlt (S. 111).
Offensichtlich ist diese Empfehlung nicht folgenlos geblieben. Denn eine Person aus dem Freundeskreis fühlt sich durch das Ende des Spiels sehr an die Odyssee erinnert, da hier ein Kind nach Jahren der Abwesenheit endlich den Weg zurück nachhause findet, um dann aber von den eigenen Eltern nicht wiedererkannt zu werden (S. 126). Und Sam erwähnt in einem Interview, dass Homer tatsächlich zu den Inspirationsquellen für das Spiel zählte (S. 95).
Hektor und die Ilias
Neben der Odyssee tritt auch die Ilias in Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow in Erscheinung, was sich in erster Linie an der Rezeption Hektors zeigt. Denn Sam und Marx hatten während der gemeinsamen Studienzeit in Harvard den Kurs Heroes for Zeroes belegt und sich in diesem Rahmen mit der Ilias beschäftigt (S. 308).
Marx gefällt seitdem besonders das Ende der Ilias, weil Hektor seiner Meinung nach zeigt, dass man weder Gott noch König sein muss, um ein sinnvolles Leben zu führen. Daher betrachtet er Hektor, der den Beinamen „Pferdezähmer“ (tamer of horses) trägt, als eine Person, mit der man sich als „normaler“ Mensch identifizieren kann („Hector is us“, S. 309).2 Außerdem weiß er, dass Hektors Beiname auch als „Pferdebrecher“ („braker of horses“, S. 362) übersetzt werden kann.3
Sam hingegen hält das Ende der Ilias für unglaublich langweilig, weil es hier eben um Hektor geht statt um den – aus seiner Sicht – wesentlich spannenderen Achilles. Hektor stellt für ihn – in Gaming-Sprache – lediglich einen NPC (Nicht-Spieler-Charakter) dar und somit nur Beiwerk zur eigentlichen Heldengeschichte. Daher ist es zunächst beleidigend gemeint, wenn Sam Marx als Hektor oder auch als „tamer of horses“ bezeichnet, doch wandelt sich die Beleidigung im Laufe der Zeit in einen freundschaftlichen Spitznamen und Insiderwitz.
Nomen est omen
Hinter der Bezeichnung als Hektor verbirgt sich außerdem ein äußerst tragischer Bezug: Denn wie Hektor wird auch Marx gegen Ende des Romans von einem vor Wut rasenden Mann ermordet, der es nicht ertragen kann, eine geliebte Person verloren zu haben, und sich deshalb an demjenigen rächen will, dem er die Verantwortung für seinen Verlust zuschreibt.
Als Erinnerung an Marx und versteckte Botschaft an Sadie baut Sam später einen optisch an Marx erinnernden NPC in ein Spiel ein, der von Beruf „horse breaker“ (S. 431) ist und einen Auszug aus der Ilias zitiert, in dem Hektors Frau Andromache um ihren gefallenen Gatten trauert, wenn die Spieler*innen ihn auf seine Lieblingsstelle aus diesem Werk ansprechen (S. 438f.).

Kleinere Rezeptionen
In einer virtuellen Spielewelt schlüpft Sam in die Rolle der Dr. Edna Daedalus, die Brillengläser und nebenbei auch Kunstwerke aus Glas herstellt. Natürlich hat sich Sam hier nach Daidalos benannt, dem Erfinder und Baumeister aus der griechischen Mythologie.
Außerdem gibt es in Bezug auf die Lichteffekte verschiedener Grafik-Engines eine kleine Anspielung auf Prometheus (S. 430), während ein kurzer Verweis auf eine Höhle innerhalb derselben virtuellen Welt, in der sich ein „oddly shimmering place“ (S. 432) befindet, womöglich ein wenig an Platons Höhlengleichnis erinnern mag.
Bei einem Streit zwischen Sadie und Sam versucht Marx die Situation zu entschärfen, indem er die beiden humorvoll als „Friends, Romans, countrymen“ (S. 164) anspricht, was an eine Rede aus einem klassischen Römerfilm erinnert.
Mein Eindruck von Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow
Auf die Antikenrezeption bezogen gefällt mir sehr gut, welche Bedeutung der Roman der Odyssee beimisst, was sich einerseits daran zeigt, dass eine wegweisende Grafik-Engine nach deren Protagonist Odysseus benannt ist, während andererseits gleich mehrere Charaktere des Romans das Werk einmal oder sogar mehrfach gelesen haben. Dabei erscheint interessant, dass Gabrielle Zevin die Lektüre von Odyssee und auch Ilias als durchaus gängig darstellt und sich die Würdigung dieser Werke sehr dezent vollzieht und teilweise ein gewisses Vorwissen bei der Leserschaft voraussetzt.4
Was die Rezeption des Hektor angeht, passt das Bild, das Marx von ihm hat, gut zu einer modernen Sichtweise auf diesen Helden, wie wir sie spätestens seit Wolfgang Petersens Troy (2004) kennen, während Sams Bewunderung für Achilles eher der traditionellen Sichtweise entspricht.
Die Handlung von Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow erstreckt sich über vier bis fünf Jahrzehnte und weist dementsprechend viele Verweise und Anspielungen auf die moderne Popkultur auf. Auch sind Odyssee und Ilias längst nicht die einzigen klassischen Stoffe, die in dem Roman von Bedeutung sind. So stammt etwa der Titel des Buchs aus Shakespeares Macbeth, während Sadie die Gedichte von Emily Dickinson ins Zentrum eines ihrer ersten eigenen Computerspiele stellt. Es gibt in Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow also auch jenseits der Antikenrezeption einige spannende Dinge zu entdecken.
Vielleicht vermittelt Euch das folgende Video von der Internetseite der Autorin einen guten Eindruck vom Buch:
- Odysseus und Hektor in „Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow“ - 31. Juli 2025
- Roma Nova – Römer im Weltraum - 4. Juni 2025
- Die Götter müssen sterben – Amazonen & Dark Fantasy - 31. Mai 2025
Anmerkungen
- Zu den realen Spieleklassikern, die im Roman eine größere Rolle spielen, zählt besonders The Oregon Trail, das man hier online spielen kann (1971/1974).
- Dass Hektor „einer von uns“ sei, klammert ein wenig aus, dass er der Sohn des Königs und Trojas oberster Heerführer ist.
- Gabrielle Zevin bezieht sich hier auf das Epitheon ἱππόδαμος, mit dem Hektor in der Ilias versehen ist und das man als Pferdezähmer, aber auch als „Pferdebrecher“ übersetzen kann. Die deutsche Übersetzung des Buches bezeichnet Hektor durchgehend als „Pferdeflüsterer“ und klammert „breaker of horses“ und „horse breaker“ aus.
- Wenn die Leser*innen nicht von selbst wissen, dass der Sohn des Odysseus Telemachos heißt, dürften sie den Namen des Sohnes von Dov Mizrah schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen. Auch ist es leicht vorstellbar, dass – auf die internationale Leserschaft bezogen – nicht allen bewusst ist, dass Ulysses die englische Schreibweise für Odysseus ist, da an keiner Stelle konkret auf die Benennung der Grafik-Engine eingegangen wird.