Veröffentlicht: 3. Oktober 2018 – Letzte Aktualisierung: 8. Februar 2022
Wohl seitdem es Erzählungen gibt, erfreut sich der Mensch an Geschichten von Heldinnen und Helden, von denen viele über besondere Fähigkeiten oder Eigenschaften verfügen. So ist Odysseus besonders klug, redegewandt und listenreich, während sich Helena durch außergewöhnliche Schönheit auszeichnet. Schließlich sei noch Aias der Telamionier (lat. Ajax) genannt, der als gewaltiger Krieger von kolossaler Körpergröße beschrieben wird. Die drei genannten Beispiele stammen alle aus der „Ilias“, die neben der „Odyssee“ zu den frühesten Epen zählt, die uns die griechische Kultur hinterlassen hat, und ins 8. oder 7. Jh. v.Chr. zu datieren ist.
Aus der „Ilias“ kennen wir auch Achilleus (lat. Achilles), den mächtigsten Kämpfer unter all den griechischen Helden, die mit Agamemnon gegen Troja gezogen waren, um dessen Schwägerin Helena zurückzugewinnen, die ja bekanntlich vom trojanischen Prinzen Paris „entführt“ worden war. Bei Achilleus denken wir schnell an seinen gewaltigen Zorn, den erst Agamemnon und dann Hektor zu spüren bekommen und der den eigentlichen inhaltlichen Kern der „Ilias“ darstellt. Noch schneller denken wir aber wohl alle erst einmal an den Begriff Achillesferse, der sich nicht nur in der Anatomie (Achillessehne), sondern auch im sprichwörtlichen Sprachgebrauch eingebürgert hat. Denn die linke Ferse bzw. eigentlich der linke Knöchel war die einzige verwundbare Stelle am Körper des Achilleus, da ihn seine Mutter, die Meeresnymphe Thetis, dort festgehalten hatte, als sie ihn in den Fluss Styx tauchte, um seine Haut unverwundbar werden zu lassen. (In anderen Varianten der Erzählung badet Thetis Achilleus in siedendem Wasser oder hält ihn in ein Feuer [Hes. Fr. 300 M‐W; Ap. Rhod. 4,869].) In der „Ilias“, ist jedoch von Unverwundbarkeit und Achillesferse noch keine Rede. Tatsächlich hören wir dies erst bei Publius Papinius Statius, einem römischen Dichter, der ins 1. Jh. n.Chr. einzuordnen ist (Stat. Ach. 1,269f. u. 1,480; vgl. Hyg. fab. 107). Allerdings kennen wir verschiedene Darstellungen des toten Achilleus auf Vasen, die womöglich darauf hindeuten, dass die Geschichte mit dem Pfeil in der Ferse bzw. im Knöchel wesentlich früher bekannt war, vielleicht bereits im 6. Jh. v.Chr. Jedenfalls kommt es natürlich, wie es kommen muss: Um einen Frevel des Achilleus zu strafen, lenkt der Gott Apollon einen Pfeil des Paris in genau diese eine verwundbare Stelle, was dann den Tod des Helden zur Folge hat. (In einer anderen Version der Geschichte schießt Apollon den Pfeil selbst.)
Tod des Achilles. Abzeichnung der Bemalung einer Amphore aus Chalkis (etwa 540-530 v.Chr.). Die Amphore gilt heute als verschwunden, sodass nur noch ältere Skizzen von ihr erhalten sind.
In der Nibelungensage ergeht es Siegfried (oder Sigurd) recht ähnlich. Wie Achilles ist auch Siegfried ein großer Krieger, der jedoch erst als Erwachsener zu seiner unverwundbaren (Horn-)Haut kommt, indem er im Blut eines Drachen badet, den er zuvor erschlagen hat. Da Siegfried beim Baden ein Lindenblatt auf die Schulter fiel, wurde die Haut hier nicht vom Drachenblut gehärtet und blieb dementsprechend verwundbar. Zu seinem Unglück berichtet seine Frau Kriemhild in eigentlich guter Absicht Hagen von Tronje von dieser Achillesferse ihres Mannes und markiert sie sogar noch in Form eines X auf dessen Kleidung. Doch statt Siegfried zu schützen, was Kriemhild eigentlich beabsichtigt hatte, ergreift Hagen bei einem Jagdausflug die Gelegenheit, den Helden auszuschalten, indem er ihm einen Speer in die verwundbare Schulter wirft und ihn so tötet.
Bei unseren modernen Superhelden gibt es einige, die über besondere Regenerationskräfte verfügen und daher annähernd unverwundbar erscheinen. Genannt seien hier etwa Wolverine, Mystique und Thor. Aber es gibt natürlich nur einen, der wirklich – zumindest bei nicht-magischen Angriffen – unverwundbar ist: Superman, der Mann aus Stahl. Anders als Achilleus und Siegfried ist seine Unverwundbarkeit kein Resultat einer bestimmten Behandlung der Haut, sondern rührt daher, dass Superman ein Außerirdischer vom Planeten Krypton ist. Unter der roten Sonne Kryptons geboren, lädt die gelbe Sonne unseres Sonnensystems alle Kryptonier mit großen Mengen an Energie auf, wobei die Kryptonier noch zusätzlich dadurch begünstigt sind, dass auf der Erde eine geringere Schwerkraft herrscht als auf ihrer Heimatwelt. Selbstverständlich wäre es auf Dauer reichlich langweilig, wenn Superman bei all seinen Kräften nicht auch diverse Schwächen hätte. Somit braucht auch er eine Achillesferse, die in seinem Fall in Form von Kryptonit allerdings extern angelegt ist. Denn Kryptonit stammt wie Superman selbst vom Planeten Krypton und kann ihm daher seine Kräfte rauben und ihn sogar töten. (Prinzipiell gibt es mehrere Arten von Kryptonit mit unterschiedlichen Auswirkungen, aber so genau wollen wir es hier jetzt mal nicht nehmen.) Erstaunlich erscheint, dass die Einführung von Kryptonit im Jahr 1945 nicht der erzählerischen Notwendigkeit der Einführung einer Schwäche des sonst allmächtigen Superhelden geschuldet war, sondern bei einer Radiosendung schlicht erklärt werden musste, weshalb Superman eine neue Stimme hatte, da der eigentliche Sprecher erkrankt war. Anders als Achilleus und Siegfried hat Superman jedoch noch keinen Apollon/Paris oder Hagen gefunden, dem es gelungen ist, den Helden unter Ausnutzung seiner Achillesferse dauerhaft auszuschalten.
Photo: Tim Korylec
Wer also Superheldencomics leichtfertig als minderwertige Kultur abtut, übersieht die vielen Parallelen zu den Helden der antiken Mythologie. Es gibt schon einige Untersuchungen, die sich näher mit derartigen Vergleichen befassen und von denen ich in den kommenden Monaten eine Auswahl vorstellen möchte. Mein kleiner Artikel zu den wunden Punkten unserer Helden bildet hingegen den Auftakt zu ein paar Überlegungen, die ich selbst zu diesem Thema angestellt habe und die demnächst mit einem Beitrag über Artefakte und Ausrüstung fortgesetzt werden.
Gibt es aus Antike oder Mittelalter noch weitere Heldinnen und Helden, die über eine fast unverwundbare Haut verfügen? Oder habe ich noch Superheldinnen und -helden vergessen, die hinsichtlich ihrer Unverwundbarkeit an Superman erinnern? Wenn ja, lasst es mich bitte unten in den Kommentaren wissen. Vielleicht muss der Artikel hier ja noch ein wenig ausgebaut werden.
Literatur:
- Römische Blutsauger: Tote beißen nicht (Libri I-III) - 29. November 2024
- Die Bibliothek von Alexandria in „The Atlas Six“ - 28. Oktober 2024
- [Fantastische Antike – Der Podcast] Progressive Phantastik - 21. September 2024
Das Erstaunliche ist, als Superman einmal „starb“, hatte das nichts mit Kryptonit zu tun. Er und ein Monster haben sich einfach (mehr oder eher weniger) totgeprügelt.
Der Zyniker in mir denkt jetzt gerade, dass, solange es Autoren gibt, die sie schreiben wollen und Leser, die sie lesen wollen, alle Superhelden unsterblich sind. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann sind sie nicht nur sterblich, sondern bekommen vielleicht nicht einmal einen Tod, sondern verschwinden im Limbo des Vergessens…
Ich glaube, da hast Du Recht 😉
Und manche kehren plötzlich völlig unerwartet zurück, wie etwa Aquaman, in den DC gerade richtig viel Arbeit steckt.
Japp, das ist immer schön zu sehen, wenn ein Autor den Charakter, den er oder sie als Kind liebte dann 30 jahre später zurückbringt/wieder groß macht.
Die Moderne setzt m.E. Mehr auf die Psyche als Schwäche. Sei es unkontrollierbare Wut, Liebe, Neid. Von daher finde ich Hulk als die Umkehr des klassischen Superhelden ultraspannend.
Stimmt, Selbstzweifel, Melancholie, vielleicht sogar Depressionen scheinen mir häufiger vorzukommen. Guter Punkt!