Von Dido bis zu H.P. Lovecraft: Hannibal Minors „Die Geschichte Karthagos“

Die Karthager in der antiken Geschichtsschreibung

Wenn wir heute die antike Welt zu rekonstruieren versuchen, tun wir dies abgesehen von archäologischen Funden primär auf Basis griechischer und römischer Quellen. Das heißt, dass wir die Geschichte des erweiterten Mittelmeerraumes und seiner Bewohner aus der Perspektive der Griechen und der Römer betrachten. Von vielen anderen Völkern haben wir kaum oder gar keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen, weshalb wir mit dem arbeiten müssen, was griechische und römische Autoren festgehalten haben. Es versteht sich von selbst, dass dies zuweilen höchst problematisch ist, da fremde Völker nicht zwingend objektiv dargestellt werden.

Ein Paradebeispiel für dieses Problem stellt Karthago dar. Karthago war eine mächtige Hafenstadt im heutigen Tunesien, deren Einflusssphäre weite Teile des westlichen Mittelmeerraumes umfasste. Doch auch im Osten des Mittelmeerraumes waren die Karthager sehr aktiv, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass Karthago ursprünglich von Siedlern aus dem phönizischen Tyros gegründet worden war, das im Libanon liegt. Aber die Karthager trieben auch auf den britischen Inseln Handel und haben aller Wahrscheinlichkeit nach auch weite Teile der afrikanischen Westküste befahren.

Da Karthago außerdem auf Sizilien Präsenz zeigte, kam es immer wieder zu Konflikten mit den Sikelioten, also mit auf Sizilien lebenden Griechen. Später kamen die Römer als neuer Machtfaktor hinzu. Obwohl sich die Karthager ursprünglich recht gut mit den Römern verstanden hatten, brach 264 v.Chr. der Erste Punische Krieg aus, der bis 241 v.Chr. andauern sollte. Wesentlich berühmter ist der Zweite Punische Krieg (218-201 v.Chr.), in dem der karthagische Feldherr Hannibal seinen Zug über die Alpen durchführte und die Römer an den Rand einer Niederlage brachte. Am Ende des Dritten Punischen Krieges (149-146 v.Chr.) wurde Karthago schließlich vollständig vernichtet. („Punier“ ist übrigens einfach das lateinische Wort für die griechische Bezeichnung „Phoinikier“, die sich wiederum von der Purpurschnecke ableitet, mit der die Phönizier ihre Tücher färbten.)

Aufgrund der zahlreichen Kriege, die die Karthager gegen verschiedene griechische Mächte und später auch gegen Rom führten, war das Verhältnis häufig angespannt, weshalb sich die griechisch-römische Geschichtsschreibung den Karthagern gegenüber als nicht immer wohlgesonnen erweist. Hinzu kommen gewissen Vorurteile, die die Phönizier als Ganzes betrafen und die sich auf deren Funktion als Händler konzentrierten. So galten die Phönizier als skrupellose und geldgierige Geschäftemacher, die auch vor Frauenraub etc. nicht zurückschreckten. Dabei klammerte man dann gerne kulturelle Errungenschaften wie das Alphabet aus, das die Griechen – und somit auch wir – von den Phöniziern übernommen haben. Eine wesentlich nettere Version dieses Stereotyps finden wir übrigens in Form des phönizischen Händlers Epidemais in den Asterix-Heften.

Langer Rede kurzer Sinn: Es gab viele Konflikte mit den Karthagern und auch vielerlei Vorurteile ihnen gegenüber, sodass es äußerst ärgerlich ist, dass wir keine karthagischen Geschichtswerke vorliegen haben, sondern alles aus griechisch-römischer Perspektive betrachten müssen.

Photo: Michael Kleu
„Die Karthagische Geschichte“ Hannibals des Kleinen

Das dachte sich offenbar auch Olde Hansen, der kurzerhand einfach selbst das karthagische Geschichtswerk schrieb, das sich alle Karthago-Freunde so sehr wünschen würden. Dafür erfand er die folgende Hintergrundgeschichte:

Im Nachlass des Kapitäns Stig Bastrup (1766-1812) fand der Archivar Dr. John Jensen 12 Papyrosrollen, die einen lateinischen Text beinhalteten. Diese Rollen übergab der Archivar dem Altertumswissenschaftlichen Institut der Universität Sakskøbing, wo Dr. Åke Jensen und Dr. Dr. Leif Sørensen den Text in die deutsche Sprache übersetzten und Olde Hansen übergaben, damit dieser ihn mit einem wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehe. Diese Geschichte der Entdeckung des Texts wird auf den Seiten 7 bis 13 nachgezeichnet und entspricht im Wesentlichen den typischen Einführungen in den Editionen realer Quellen.

Es folgt der aus 131 Kapiteln bestehende eigentliche Text, der von Hannibal Minor (= der Kleine) um 100 v.Chr. niedergeschrieben worden sein soll. Vom Aufbau und Inhalt her gelingt es Olde Hansen überzeugend, unser aus griechischen und römischen Quellen stammendes Wissen über die Geschichte Karthagos von der Stadtgründung bis zu ihrer Zerstörung aus karthagischer Perspektive wiederzugeben. Wenn Hannibal Minor gelegentlich Dinge erwähnt, die wir nicht aus anderen Quellen kennen, wird dies natürlich in den Kommentaren angemerkt. Dasselbe gilt für Stellen, an denen Hannibal übertreibt oder etwas falsch verstanden hat. Überhaupt entspricht der ganze Fußnotenapparat dem einer ernsthaften Edition. So verweist Hansen korrekt auf die realen Quellen zu den einzelnen Sachverhalten und führt auch die wesentliche Forschungsliteratur zur weiteren Vertiefung auf. Der einzige Punkt, den ich in den Fußnoten nicht nachvollziehen konnte, ist die Annahme, dass der Übergang von der homerischen Ilias zur Odyssee in den Zeitraum zwischen 500 und 450 v.Chr. einzuordnen sei, werden beide Werke doch gewöhnlich für wesentlich älter gehalten.

Auf den Text Hannibal des Kleinen folgen ein „zeitgenössisches“ Gedicht über die Zerstörung Karthagos, zwei einfache aber zweckdienliche Karten sowie ein Nachwort von Olde Hansen, in dem dieser noch einmal die Bedeutung dieses spektakulären Neufunds hervorhebt. Das Abkürzungs- und das Literaturverzeichnis entsprechen wiederum regulären wissenschaftlichen Editionen. Das Cover ziert übrigens ein typisches Motiv karthagischer Münzen aus Sizilien.

Insgesamt betrachtet ist es ein großer Spaß, das Buch zu lesen, da es äußerst fachmännisch erfunden wurde und vom Stil her tatsächlichen antiken Quellen entspricht, was nicht sonderlich verwundern kann, da Olde Hansen ein ausgebildeter Althistoriker ist. Da in den Fußnoten auf die realen Quellen und die wichtigste Forschungsliteratur verwiesen wird, kann man das Buch tatsächlich als eine kurze Geschichte Karthagos lesen. Spannend wäre auch die Verwendung im Geschichtsstudium, da man anhand des Werkes schön die Perspektivität unserer antiken Quellen diskutieren kann.

Eine kleine Hommage an H.P. Lovecraft

In diese weitestgehend realistische „Fälschung“ einer antiken Quelle hat der Autor noch eine kleine Hommage an H.P. Lovecraft eingebaut. Denn in HM 79-81 (also Hannibal Minor Kapitel 79-81) ist die Rede vom Orden des Dagon. Dieser Kult geht auf Kaufleute zurück, die die Plateaus von Leng und das sagenhafte Raelaeh bei ihren Fahrten erreicht hatten. Nachdem der karthagische Rat erfahren hatte, was dieser Orden des Dagon genau machte, wurde die Siedlung, in der der Kult ansässig war, umgehend in einer geheimen Aktion vernichtet.

Dass Olde Hansen diese kleine Episode in sein Werk eingebaut hat, ist leicht zu erklären. Denn Lovecraft scheint sich bei seinem Wesen namens Dagon am mesopotamisch-syrischen Gott Dagan orientiert zu haben, der auch in den phönizischen Städten verehrt wurde.

Schlussbemerkung

Olde Hansen hatte mich Ende 2018 kontaktiert, als er auf mein Projekt aufmerksam geworden war, und mir daraufhin ein Freiexemplar seiner Geschichte Karthagos zugeschickt. Ich hätte das Buch so oder so besprochen, da es wirklich gelungen ist und schön in meine Rubrik „Fanart/Kreatives“ passt. Dass aber auch noch Lovecrafts Dagon in der „Quelle“ vorkommt, macht die Schrift Hannibals des Kleinen noch umso passender für meinen Blog.

Michael Kleu

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